Der Feind in deiner Nähe
eigenen Büro. Mein Vorhaben bereitete mir keine Schwierigkeiten, ich brauchte nur einen Moment, um Deborahs Unterlagen zu finden, kopierte einen Teil davon und legte sie genau in dem Moment an ihren Platz zurück, als ich draußen auf der Treppe Schritte hörte.
4
Ich wusste, dass es Meg war, sie traf immer als Erste im Büro ein. Nur heute nicht. Sie trug ein weißes Baumwollshirt und hatte das Haar streng nach hinten gebunden. Ihr einziger Schmuck waren kleine silberne Ohrstecker, und sie war völlig ungeschminkt. Wie frisch sie doch aussah, wie ein makelloses Stück Obst, ein Apfel oder Pfirsich. Sie zuckte einen Moment überrascht zusammen, als sie mich entdeckte, dann setzte sie sich neben mich. »Ich dachte, du würdest erst viel später kommen«, sagte sie. »Nach dem gestrigen Abend. Wie ist es denn noch weitergegangen?«
Ich beantwortete ihre Frage mit einer Art Achselzucken, das bedeutete: später. Wir sprechen später darüber.
Sie starrte mich an. »Du hast irgendeine Dummheit begangen, stimmt’s?«
Man darf Meg nicht unterschätzen. Sie kann wie mit Röntgenaugen in mich hineinsehen. Sie durchschaut sogar mein Achselzucken.
»Dafür ist jetzt nicht die Zeit«, antwortete ich. »Ich bin schon so früh gekommen, weil ich etwas überprüfen wollte. Sieh dir das an.«
Ich breitete die Fotokopien vor ihr aus.
Sie betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Du wirst mir ein bisschen etwas dazu sagen müssen«, meinte sie schließlich.
»Das sind Deborahs so genannte Unterlagen«, erklärte ich.
»Rechnungen, Berichte, Spesenformulare, Pläne, du weißt schon. Was wir halt so machen.«
»Ja, das sehe ich.«
»Es ist alles völliger Schrott«, fuhr ich fort. »Schau dir diese Spesenrechnung an. Deborah war überhaupt nicht in Sussex.«
»Ja, aber –«
»Und die Beurteilung für das übernächste Wochenende. Die, an der sie angeblich schon die ganze Woche schreibt. Das hier ist sie.«
Meg griff nach einem fast leeren Blatt. »Woher willst du das wissen?«, fragte sie. »Vielleicht hat sie den Rest zu Hause.«
»Ich habe alles durchgesehen. Meiner Meinung nach bleibt nur noch zu klären, ob sie einfach unehrlich ist oder aber eine so blühende Phantasie hat, dass sie ihre chronischen Lügen selbst glaubt. Apropos, erinnerst du dich daran, wie sie letzte Woche behauptet hat, nach der Beerdigung ihres Bekannten den Zug verpasst zu haben? Es gibt gar keinen solchen Zug. Ich habe das überprüft.«
Meg wirkte schockiert. »Bist du sicher?«
»Ja.«
»Wir müssen mit ihr sprechen.«
»Wir müssen sie feuern.«
»Holly, das können wir nicht. Für so was gibt es gewisse Regeln.«
»Wir sind nur eine winzige Firma, Meg. Jemand wie Deborah könnte uns ruinieren. Wir bringen das Ganze eben auf eine faire Art und Weise über die Bühne. Reden mit ihr, erklären ihr die Situation und legen ihr nahe zu gehen. Vielleicht sollten wir ihr sogar raten, einen Arzt aufzusuchen. Wir erledigen das gleich heute. Sobald sie kommt.«
»Du vergisst, dass sie heute und morgen auf dieser Konferenz ist.«
»Dann eben, wenn sie zurück ist. Wir dürfen es bloß nicht auf die lange Bank schieben.«
Meg biss sich auf die Lippe. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wir sollten besser erst mal mit Trish über die Sache sprechen.«
»Trish leitet das Büro, aber es ist unsere Firma. Unsere Entscheidung.«
»Wir sind hier doch wie eine Familie.«
»Und genau deswegen können wir mit jemandem wie Deborah nicht überleben.«
Meg hatte mittlerweile ganz rote Wangen. Das ist bei ihr immer so, wenn etwas sie emotional sehr bewegt. »Wie schaffst du das nur?«, fragte sie in verwundertem Ton.
»Was?«
»Gestern Abend hättest du beinahe eine Schlägerei angezettelt.
Eine Minute später lässt du dich von dem Mann, der dich genauso gut hätte umbringen können, auf einen Drink einladen.
Das war der Moment, als wir gegangen sind – sobald wir sicher waren, dass dir nichts passieren würde. Wo bist du danach hin?
Ich habe von zu Hause aus bei dir angerufen, aber du warst noch nicht da. Und jetzt tauchst du hier schon in aller Herrgottsfrühe auf und spielst Sherlock Holmes. Wie schaffst du es bloß, die Dinge in deinem Leben derart zu trennen? Als würdest du sie alle in verschiedene Fächer stecken. Bringst du denn nie etwas durcheinander?«
»Das ist ja gerade der Vorteil von Fächern«, erklärte ich.
»Und genau das war das Problem der Titanic. Das Ganze wäre gar nicht so schlimm gewesen, wenn es Absperrungen
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