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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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ging er weiter.
    Der Kies knirschte unter seinen Schuhen. Sein Vortrag. Alle würden ihn anblicken, und er würde aus den Augenwinkeln Wöllners Glatze sehen, die Stirn ungeduldig gerunzelt, und dann würde er Luft holen und auf ein Wunder warten, das nicht eintreffen würde, und die Stille würde sich ausdehnen, und fast würde er glauben, es schon hinter sich zu haben, um plötzlich zu erkennen, daß es noch nicht Erinnerung war, daß der Augenblick noch währte … Er blieb stehen. Der Weg endete in einem lehmigen Platz am Ufer.
    Kein Mensch war zu sehen. Auf dem Boden lagen ein schmutziges Handtuch, eine flachgetretene Blechdose, weggeworfene Zigaretten. Im Wasser, etwa zwanzig Meter vor ihm, hob und senkte sich eine Boje. Die Wellen rollten träge heran, zogen sich zurück, kamen wieder, zogen sich zurück. Julian zögerte. Dann begann er sich auszuziehen.
    Ein Luftzug berührte kühl seinen Rücken, instinktiv zog er die Schultern zusammen. Sein Bauch und seine Brust waren bleich; er bemerkte es mit einem Gefühl von Scham und war froh, daß niemand ihn sah. Als er einen Moment lang nackt war, klopfte sein Herz, fast erwartete er, daßjemand auftauchen und ihn anstarren würde, aber schon war es vorbei, und er trug seine Badehose, und natürlich war niemand gekommen. Er faltete seine Kleider, legte sie vorsichtig auf den Boden und nahm die Brille ab.
    Wie immer, wenn er das tat, lief ein Zittern durch die Welt, die scharfen Konturen zerliefen zu einem Nebel von Farben und unklaren Bewegungen. Plötzlich wäre er am liebsten wieder zurückgegangen, er hatte immer noch Zeit, ein paar Schlagworte aneinanderzureihen, neue Medien, nicht zu unterschätzende Bedeutung, mit der Zeit gehen, unterschiedliche Techniken der Kalkulation, zunehmende Bedeutung des Virtuellen, ganze Wirtschaftszweige neu entstanden, irgend etwas in dieser Art, es würde peinlich werden, er würde wohl stottern und ein paarmal von vorne beginnen müssen, Wöllner würde es übelnehmen, aber es würde doch besser sein als gar nichts! Er legte die Brille auf das Hemd und zog seine Schuhe aus. Es war nicht leicht, die Schleifen zu öffnen, wenn man sie nicht sah. Er schob seinen Zimmerschlüssel tief in den rechten Schuh.
    Es fiel ihm schwer, barfuß zu gehen. Der Boden war sandig und nachgiebig, etwas stach in seineFerse, er breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er fühlte sich lächerlich. Dünn und bleich, nicht gewöhnt an die Nacktheit, halb blind. Wieder fiel ihm Wöllner ein, wieder der Mann von der Bank, Andreas heisere Stimme am Telefon. Er machte einen großen Schritt und spürte die Kälte des Wassers an den Knöcheln, den Waden, den Knien und – er hielt die Luft an – am ganzen Körper. Er ging in die Knie, streckte die Arme vor und stieß sich ab.
    Sein Körper schnellte nach vorne. Er beugte den Kopf zurück, aus irgendeinem Grund kam es ihm wichtig vor, daß seine Haare trocken blieben; er schwamm mit gleichmäßig festen Bewegungen, schon wurde die Kälte erträglich. Eine grundlose Freude stieg in ihm auf, sinnlos und stark, nicht zu unterdrücken, fast hätte er laut gelacht. Das Wasser um ihn wurde dunkler und auch kälter. Aber das machte ihm nichts mehr aus, sein Körper hatte sich daran gewöhnt. Das Ufer war schon weit entfernt. Vielleicht täuschte er sich auch, seine Augen waren nicht mehr verläßlich. Aber war da nicht eine Boje gewesen?
    Er legte sich auf den Rücken.
    Der Schatten eines Vogels zog mit langsamenFlügelschlägen vorbei. Die Sonne blendete, er schloß die Augen. Und übermorgen mußte er wieder nach Hause, in den Regen und den Herbst, für nächste Woche hatte der Wetterbericht sogar den ersten Schnee angekündigt; auf einmal erschien ihm das kaum mehr vorstellbar. Er bewegte langsam die Füße, spürte, wie seine Hände auf dem Wasser lagen, die sanfte Kraft, die ihn trug und tragen würde …
    Was? Er rieb sich die Augen und blickte um sich. Worüber war er erschrocken? Das Ufer war kaum noch zu sehen, er mußte fast in der Mitte des Sees sein; er hatte nicht gemerkt, daß er so weit hinausgeschwommen war. Wie spät war es? Er wollte auf die Uhr sehen, aber dann fiel ihm ein, daß er sie im Hotelzimmer gelassen hatte. Er überlegte, kniff die Augen zusammen und schwamm los. Die Sonne stand bereits niedriger als vorhin, auch blendete sie stärker, er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war.
    Das Ufer näherte sich nicht. Seine Schultern und Arme taten weh, in seinen Atem

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