Die Messerknigin
Eine Einführung
Schreiben ist wie Fliegen im Traum.
Wenn man sich erinnert. Wenn man kann. Wenn es klappt.
So einfach ist das.
NOTIZEN DES AUTORS, FEBRUAR 1992
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Sie verwenden Spiegel. Das ist natürlich ein Klischee, aber es ist auch wahr. Zauberer benutzen Spiegel, meist in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel, seit die Viktorianer vor weit über hundert Jahren anfingen, verlässliche, klare Spiegel als Massenware herzustellen. John Nevil Maskelyne tat es 1862 als Erster mit einem Kleiderschrank, der, dank eines geschickt angebrachten Spiegels, mehr verbarg, als er zeigte.
Spiegel sind etwas Wunderbares. Sie scheinen die Wahrheit zu sagen, eine Reflexion des Lebens zu zeigen, doch wenn man einen Spiegel richtig einsetzt, kann er so überzeugend lügen, dass man glaubt, ein Gegenstand habe sich in Luft aufgelöst, dass eine Kiste voller Tauben und Fähnchen und Spinnen leer sei, dass die Leute hinter der Kulisse oder im Parkett schwebende Geister auf der Bühne seien. Bringt man ihn in den richtigen Winkel, wird ein Spiegel zum magischen Fenster und zeigt dir alles, was du dir nur vorstellen kannst. Und vielleicht auch ein paar Dinge, die du dir nicht vorstellen kannst.
(Der Rauch lässt die Umrisse verschwimmen.)
Geschichten sind auf die eine oder andere Weise nichts anderes als Spiegel. Wir verwenden sie, um uns zu erklären, wie die Welt funktioniert oder eben auch nicht funktioniert. Genau wie ein Spiegel bereiten Geschichten uns auf den neuen Tag vor. Lenken uns von den Dingen ab, die im Dunkeln liegen.
Fantasy – und jede Fiktion ist in gewisser Weise Fantasy – ist ein Spiegel. Ein Zerrspiegel, zugegeben, der Dinge verbirgt, der in einem Fünfundvierziggradwinkel zur Realität steht, aber ein Spiegel nichtsdestotrotz und wenn wir hineinschauen, kann er uns Dinge erzählen, die wir sonst vielleicht nie sehen würden. (Märchen sind mehr als wahr, hat G.K. Chesterton einmal gesagt. Nicht weil sie uns erzählen, dass es Drachen gibt, sondern weil sie uns erzählen, dass man Drachen besiegen kann.)
Heute hat der Winter begonnen. Der Himmel wurde grau, dann fing es an zu schneien und hörte bis lange nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf. Ich habe im Dunkeln gesessen und den Schnee fallen sehen. Glitzernd und schimmernd wirbelten die Flocken ins Licht und verschwanden wieder. Und ich habe darüber nachgedacht, woher Geschichten kommen.
Das ist eins von den Dingen, über die man so nachdenkt, wenn man davon lebt, sich irgendwelches Zeug auszudenken. Ich bin immer noch nicht sicher, ob das eine geeignete Beschäftigung für einen erwachsenen Menschen ist, aber jetzt ist es zu spät: Es sieht so aus, als hätte ich einen Beruf gefunden, der mir Spaß macht und für den ich morgens nicht zu früh aufstehen muss. (Als ich ein Kind war, haben die Erwachsenen immer gesagt, ich dürfe mir nicht ständig solche Sachen ausdenken, und sie haben mich davor gewarnt, was mir passieren könnte, wenn ich es doch täte. Soweit ich bislang feststellen kann, sind die Folgen jedoch durchaus erträglich: viele Reisen in fremde Länder und ich muss morgens nicht allzu früh aus den Federn.)
Die meisten Geschichten in diesem Buch wurden geschrieben, um die verschiedenen Lektoren und Herausgeber zu unterhalten, die mich um Beiträge für bestimmte Anthologien gebeten hatten (»Es ist für eine Geschichtensammlung über den Heiligen Gral«, »… über Sex«, »… Märchen, für Erwachsene neu erzählt«, »… Sex und Horror«, »… Rachegeschichten«, »… über Aberglauben«, »… noch mehr Sex«). Ein paar wurden auch geschrieben, um mich selbst zu unterhalten, oder genauer gesagt, um eine Idee oder ein Bild aus meinem Kopf zu kriegen und sicher auf Papier zu fixieren, was meiner Meinung nach keineswegs der schlechteste Grund fürs Schreiben ist: die Dämonen freisetzen, sie davonfliegen lassen. Manche der Geschichten begannen als müßige Gedanken – Fantasien und Kuriositäten, die einfach außer Kontrolle gerieten.
Ich habe mir einmal eine Geschichte als Hochzeitsgeschenk für ein befreundetes Paar ausgedacht. Sie handelte von einem Brautpaar, das eine Geschichte als Hochzeitsgeschenk bekam. Es war eine eher beunruhigende Geschichte. Nachdem ich sie mir ausgedacht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass diese Freunde sich über einen Toaster vermutlich mehr freuen würden. Also habe ich ihnen einen Toaster gekauft und die Geschichte bis zum heutigen Tag nicht aufgeschrieben. Bis zum heutigen Tag
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