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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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vom Haken; er hätte lieber eine Markenjacke gehabt wie die anderen in der Schule, aber das hätte er ihr nie erklären können. Seine Mutter rief etwas, er antwortete nicht, aus dem Garderobenspiegel sah ihn ein blasses, ihm nicht sehr ähnliches Gesicht an. Er hörte noch einmal seine Mutter, dann fiel die Haustür hinter ihm zu.
    Von einem Plakat starrte ihn ein uniformierter Mann mit einer Pistole in der Hand an: Teil Zwei stand darunter, den ersten kannte er nicht, und er wußte auch nicht, um welchen Film es ging, trotzdem hätte er ihn gern gesehen. Es regnete noch immer, doch nicht sehr stark, nur ein Prickeln im Gesicht und ein Gefühl von Feuchtigkeit, das sich im oberen Bereich des Rückens verlor. Er hätte sich die Kapuze über den Kopf ziehen sollen; aber er tat es nicht, niemand konnte ihn dazu zwingen. Seine Haare wurden naß, sein rechtes Schuhband stand offen, schleifte nach und wurde dunkel vor Feuchtigkeit. Vorbei an einer Bäckerei: ihr Geruch brannte sich in sein Gedächtnis, und zeit seinesLebens sollte das Aroma warmen Mehls ihn zurück in diesen Moment versetzen. Vorbei an einem Supermarkt, an einer Buchhandlung, deren Türen sich öffneten, einen Mann ausspuckten und sich wieder schlossen; im Fenster stapelten sich Kinderbücher, auf denen grinsende Bären, Clowns, ein Dachs mit einem Schlapphut gemalt waren; er zwang sich, nicht zu lange hinzusehen, es hätte ihn interessiert, aber er war dafür schon zu alt. Im Glas der Schaufenster ging ein durchsichtiger Doppelgänger neben ihm: ein zu langer Hals, nasse Haare, abstehende Ohren. Er haßte diese Ohren, betrachtete sie jeden Tag, befühlte sie, hoffte, daß sie schrumpfen würden, hatte schon einmal, an einem besonders hellen und harmlosen Mittag, den Teufel um Hilfe gebeten. Aber auch das hatte nicht gewirkt.
    Der Regen war noch schwächer geworden, nur mehr eine Schraffur in der Luft, kaum zu spüren. Er überquerte eine und noch eine Straße, ging nach rechts, nach links und wieder nach rechts und hatte die Orientierung verloren. Ein großes Gebäude, das ihm bekannt vorkam, Fenster wie dunkle Spiegel, Werbetafeln, eine Zigarette neben einem riesigen Coca-Cola-Schriftzug: der Bahnhof.Zwei Türen glitten auseinander und ließen ihn hinein.
    Marmor und hallende Geräusche, unzählige Menschen, Buchstaben rannen an einer schwarzen Tafel hinab, eine Frauenstimme sagte Gleis Drei , dann noch einmal Gleis Drei . Er breitete die Arme aus. Plötzlich hatte er den Wunsch, sich zu drehen.
    Und weil niemand es verbieten konnte, tat er es. Er fing langsam an und wurde schneller, die Menschen verwandelten sich in ein Gewirr von Schuhen, Mänteln, Köpfen, Schuhen, er drehte sich noch schneller, spürte, wie er gegen etwas stieß, jemand rempelte ihn an, »Paß doch auf!«, noch schneller, und als ihn auf einmal jemand festhielt, wäre er fast hingefallen.
    »Bist du allein?« Eine Frau hockte vor ihm, hatte ihr Gesicht in Falten und die Hände auf seine Schultern gelegt. »Brauchst du Hilfe?«
    Er tat, als müßte er nachdenken. Er öffnete den Mund, schloß ihn wieder, sah sie an. Und plötzlich, als sie es nicht mehr erwartete, riß er sich los und rannte. Wich Menschen aus, sprang zur Seite, rannte, der Marmor warf das Geräusch seiner Schritte zurück; als er über seine Schulter blickte,war sie schon nicht mehr zu sehen. Eine Rolltreppe hob ihn auf, trug ihn über die Köpfe der Leute, durch ein gläsernes Zwischenreich auf einen Bahnsteig. Ein Kaugummiautomat, gähnende Menschen, ein dürrer alter Mann glotzte in die Zeitung, in einer Ecke lungerten ein paar Jungen, die wie Peter Bohlberg aussahen, nur älter und gefährlicher; er hoffte, daß sie ihn nicht bemerkt hatten. Die Frauenstimme sagte wieder etwas, und ein Schwall abgestandener Luft berührte ihn. Der Zug fuhr ein, bremste und öffnete seine Türen.
    Julian stand reglos. Angst stieg in ihm auf, schnürte ihm den Hals zu, füllte ihn ganz. Er ballte die Fäuste.
    Dann stieg er ein.
    Er war selbst völlig verblüfft. Und als der Zug längst losgefahren und der Bahnhof nicht mehr zu sehen war und Schienenstränge sich voneinander lösten und miteinander verschmolzen und Stromdrähte sich hoben und senkten und die ersten Wiesen sich bräunlich und feucht unter die Häusergruppen mischten, begriff er es immer noch nicht, konnte kaum glauben, daß er es getan hatte. Sein Mund war ausgetrocknet, in seinem Magen hing ein bohrend flaues Gefühl; auf einmal wollte er sosehr nach Hause, daß

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