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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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I
    »Seien Sie vorsichtig!« Der Mann an der Rezeption sah Julian neugierig an. »Voriges Jahr ist jemand ertrunken. Einfach nicht zurückgekommen. Man bemerkt es nicht gleich, aber die Strömungen …«
    »Sicher«, sagte Julian, »sicher!«
    »Er wurde nie gefunden.«
    Julian nickte zerstreut und legte das Handtuch über seinen Arm. Die Drehtür setzte sich surrend in Bewegung und gab ihn frei. Die Sonne stand bereits niedrig. Ein Mann mit einem Strohhut ging gebückt vorbei, ein dickes Kind warf mit beiden Händen einen Fußball nach dem Stamm einer Palme, verfehlte ihn und sah hilflos zu, wie der Ball den Hang hinabrollte. Julian preßte das Handtuch an sich und folgte dem Weg, der sich in eine weit geschwungene Serpentine legte. Es war verwirrend, Mitte Oktober an einem Ort zu sein, wo es noch so warm war.
    Der See, hell und reglos, spannte sich bis zu den Schemen der Hügel am Horizont, eine einzelne Möwe zog träge darüber hin. Eine Weile starrteJulian hinab, ohne sich zu bewegen. Es kam nicht oft vor, daß Tagungen von Versicherungsleuten an solchen Orten stattfanden. Meist waren es Provinzstädte oder verregnete Dörfer; noch nie hatte er sich auf solch eine Reise gefreut.
    Trotzdem, er hatte noch immer keine Ahnung, was er in zwei Stunden sagen würde, wenn sein Vortrag über Elektronische Medien in der Risikokalkulation an der Reihe war. Er hatte nur eine vage Vorstellung, was Risikokalkulation war, er wußte nichts über elektronische Medien, und er hatte kein einziges Wort vorbereitet.
    Vor der Abreise hatte er es hinausgeschoben, es gab so viele Gründe dafür: Formulare, die durchgesehen werden mußten, der ständig abstürzende Computer im Büro, die Verhandlungen mit der Kreditabteilung der Bank, die wechselnden Launen seines Vorgesetzten Wöllner. Er hatte beschlossen, sich erst im Flugzeug darum zu kümmern. Aber dort hatte er bloß verträumt dagesessen, an seinem Rotwein genippt und versucht, über die Schulter seines Nebenmannes einen Blick auf die Berggipfel und die Schatten der Wolken auf dem Erdboden zu werfen, und der ungewohnte Alkohol hatte ein Gefühl träger Schwere auf ihn gelegt;er hatte sich vorgenommen, den Vortrag noch in der Nacht zu schreiben, gleich nach dem Abendessen. Doch das hatte länger gedauert als erwartet, zweieinhalb Stunden lang hatten ihn die bleichen Gesichter, Brillen, schuppigen Haare und viel zu bunten Krawatten der Menschen umgeben, die seine Kollegen waren, und neben ihm hatte eine Frau ohne Unterlaß über Golfregeln gesprochen, über einen Abschlag vom dritten Loch, über Handicaps, über ein Hole-in-One , das ihr irgendwann gelungen war, ohne ihm ein einziges Mal die Chance zu geben, das Thema zu wechseln; danach hatte er nur mehr nach dem sich langsam drehenden Bett tasten können, erstmals seit langem unfähig, wach zu bleiben, und war Sekunden später in eine Dunkelheit ohne Träume gefallen. Heute morgen hatte er den von trockenen Hustenanfällen unterbrochenen Begrüßungsworten des Gastgebers zuhören müssen, dann hatte es Mittagessen gegeben, und jetzt hätte er endlich Zeit gehabt … Jetzt! Er preßte das Handtuch an sich und schüttelte den Kopf. Es galt als Auszeichnung, daß Wöllner ihn mitgenommen hatte. Wenn sie sich blamierten, würde er ihm nicht verzeihen.
    Unschlüssig drehte sich Julian nach dem Hotelmit seinen Markisen, Balkonen und altmodischen Vordächern um. Dann blickte er zum See. Für morgen, Sonntag, war Regen vorausgesagt, übermorgen mußten sie abreisen. Es war seine letzte Chance.
    Das dicke Kind lief schwerfüßig über den Weg und bückte sich nach dem verbeulten Ball. Auf dem Boden lagen Zigarettenkippen, die Wurzeln einer Platane drangen wie braune Adern aus der Erde, eine Eidechse huschte davon und verschwand im Gras. Julian atmete den Geruch der Algen ein. Italien, dachte er; dann noch einmal: Italien. Er rückte seine Brille zurecht und wartete darauf, daß er irgend etwas empfand.
    Aber dafür mußte er es fertigbringen, nicht an den Mann von der Kreditabteilung und die Schulden bei der Bank zu denken, nicht an Wöllner, nicht daran, daß er einen Beruf hatte, den er nicht mochte, nicht an Andreas Stimme, als sie ihm gesagt hatte, daß er nicht mehr anrufen sollte. Er wischte sich den Schweiß ab. Er hörte ein dumpfes Geräusch, dann rollte ihm langsam der Ball vor die Füße: gefleckt und schlecht aufgepumpt. Er blickte auf das Kind, das mit hängenden Schultern unterhalb des Weges stand. Dann auf den Ball. Dann

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