Der Findling
Wege durch die ärmlichen Straßen, die die bessern Quartiere umgeben, verliefen sich die Knaben mehr als einmal, so daß sie eine Stunde nach ihrem Aufbruche aus der Saint-Patrick-Street noch nicht einmal die Quais der Liffey erreicht hatten.
»Einen Fluß giebt’s hier also wohl gar nicht? fragte Bob wiederholt.
– Doch… einen Fluß, der in den Hafen mündet,« versicherte Findling.
Immer fast blindlings weitergehend, gelangten sie nach einer Gruppe vier Etagen hoher, aus Portland-Cement errichteter Gebäude, mit hundert Meter langer griechischer Façade, einem von vier korinthischen Säulen getragenen Fronton und mit zwei Eckpavillons mit Pilastern und Attiken. Um das Ganze erstreckte sich ein wirklicher Park, worin junge Leute dem Sport aller Art huldigten. Das Ganze war aber nicht etwa eine Art Turnanstalt, sondern die von Elisabeth gegründete Universität, das Trinity-College. Die jungen Leute hier waren irische Studenten, lauter eifrige Sportsmen, die sich an Kühnheit und Feuer mit ihren Kameraden von Oxford und Cambridge messen können. Das Ganze glich freilich nicht der
Ragged-School
von Galway, und der Vorsteher hier mochte wohl eine ganz andre Persönlichkeit sein, als jener O’Bodkins.
Bob und Findling wandten sich von hier aus weiter nach rechts, und sie hatten kaum hundert Schritte gemacht, als der kleine Knabe jubelnd ausrief:
»Dort… dort sehe ich Masten!
– Also, Bob, muß auch ein Strom dort sein!«
Von den Masten sah man zunächst freilich nur die über die Häuser am Quai hinausragenden Spitzen. Deshalb suchten sie sich also eine nach der Liffey hinabführende Straße, wobei ihnen Birk, mit der Nase an der Erde schnüffelnd, als hätte er eine Spur gewittert, lustig vorauslief.
Ihm schnell folgend, schenkten sie der Christ-Church-Kathedrale nur einen flüchtigen Blick. Diese liegt aber von der ersten Kathedrale nur durch die Länge der Saint-Patrick-Street getrennt – ein Beweis für die weiten Umwege, die die Knaben gemacht hatten. Letztere ist übrigens eine recht bemerkenswerthe Kirche, erbaut im 13. Jahrhundert in Farm eines lateinischen Kreuzes, mit Nebenthurm und spitzen Dachreitern u. s. w. Doch sie näher zu betrachten, dazu fand sich wohl immer noch einmal Zeit.
Endlich erreichten Findling und Bob das rechte Ufer der Liffey.
»O, wie schön das ist! rief der eine.
– Etwas so Schönes haben wir noch nie gesehen!« meinte der andre.
In Limerick wie in Cork, am Shannon wie an der Lee würde man freilich das herrliche Bild granitner Quais, die mit prächtigen Gebäuden besetzt sind, vergeblich sachen – zur Rechten die von Ushers-Aleschants. von Word und von Essex, zur Linken die von Ellis, Avan, von Kings-Inn und andre.
Hier gingen die Seeschiffe indeß nicht vor Anker. Ihr Mastenwald erhob sich weiter stromabwärts in einem tiefen Einschnitt des linken Ufers der Liffey.
»Das sind dort jedenfalls die Docks? sagte Findling.
– Ei, komm, dahin gehen wir sofort!« antwortete Bob, dessen Neugier das Wort »Dock« erregte.
Die beiden Hälften von Dublin stehen durch neun Strombrücken in bequemer Verbindung, und die östlichste davon, die Carlisle-bridge – gleichzeitig die bedeutendste – führt unmittelbar von der Westmoreland-Street auf der einen, nach der Sackeville-Street auf der andern Seite.
In die letztere bogen die Knaben nicht ein, denn das hätte sie zu weit von den Docks weggeführt. Dagegen musterten sie aufmerksam alle Schiffe, die unterhalb der Carlisle-bridge auf der Liffey lagen. Vielleicht fanden sie den »Vulcan« darunter. Den Dampfer Grips hätten sie ja unter Tausenden erkannt.
Der »Vulcan« lag aber nicht an den Quais der Liffey. Vielleicht war er noch gar nicht zurückgekehrt, vielleicht ankerte er inmitten der Docks oder war wegen nothwendiger Ausbesserungen ins Trockendock gegangen.
Findling und Bob folgten dem Quai am linken Stromufer. In Gedanken an den »Vulcan« bemerkte der eine vielleicht gar nicht das Custom-house (Zollgebäude), ein mächtiges, viereckiges Bauwerk mit hundert Fuß hoher, von einer Statue der Hoffnung bekrönter Kuppel. Der andre dagegen blieb einen Augenblick in Betrachtung verloren stehen. Er dachte daran, ob wohl jemals auch Waaren von ihm hier der Zollbehandlung unterliegen würden. Ein erhebendes Gefühl mußte es sein, hier Frachtgüter, die aus fremdem Lande für ihn eingetroffen wären, in Empfang zu nehmen Doch sollte ihm das jemals beschieden sein?
Die Knaben gelangten nach den Victoria-Docks. In
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