Der Finger Gottes
psychisch Kranken beschrieb, der mit dem harten Leben in dieser grausamen Welt nicht fertig wurde. Die wahren Gründe aber kannten nur eine Handvoll Menschen: Brackmann, Engler, Reuter, Schmidt, Angela Siebeck . . . Und obwohl zumindest Brackmann und Angela es gern getan hätten, erzählten sie keinem Menschen von der Begebenheit, die letztendlich zum Selbstmord des Jungen geführt hatte.
Angela Siebeck wurde nach dem Tod von Frau Fleischer die Leitung der Bücherei angeboten, doch sie lehnte dankend, aber entschieden ab. Diese Stadt würde sie nie für das entschädigen können, was sie erlebt hatte. Sie packte ihre Koffer, verließ Waldstein wenige Wochen nach dem Tornado und ging zurück nach Boston, um sich um ihre alkoholund tablettensüchtige Mutter zu kümmern.
Scherer, der für die Mißhandlungen an seiner Frau und für den Hundekampf verantwortlich zeichnete, wurde von einem Richter aus Nürnberg abgeurteilt. Richter Zeiher aus Hof weilte zur Zeit der Verhandlung zur Genesung nach einer Herzattacke in der Schweiz. Scherer wurde zu zehntausend Mark Strafe, einem Jahr Gefängnis und einer anschließenden Bewährungszeit von fünf Jahren verurteilt. Seine Frau hätte somit die Möglichkeit gehabt, zusammen mit ihren Kindern Waldstein zu verlassen, um ein neues, friedliches Leben irgendwo anders zu beginnen. Ein Leben, frei von der Angst vor Prügel, Vergewaltigung und anderen Mißhandlungen. Und obwohl ihr sogar von verschiedenen Seiten Hilfe angeboten wurde, lehnte sie aus für jedermann unerfindlichen Gründenab. Sie blieb in Waldstein, wo sie auf die Freilassung ihres Mannes aus dem Gefängnis wartete. Keiner würde je ergründen, was sie bewog, sich weiter jenem Haß auszusetzen, der erneut auf sie niederprasselte, sobald die Gefängnistore ihren Mann ausspuckten. Bereits am ersten Abend nach seiner Rückkehr hörte man schon wieder die dumpfen Schläge und angsterfüllten Schreie aus dem schmuddeligen Haus neben der einzigen Autowerkstatt und Tankstelle in Waldstein. Und bestimmt vernahm der eine oder andere die verzweifelten Hilferufe der jungen Frau, doch man hatte sich ja auch früher nicht darum geschert . . .
Nach zwei langen Tagen und Nächten der Schläge und Vergewaltigungen wurde Frau Scherer, die sich am Morgen mit letzter Kraft auf die Straße geschleppt hatte, während ihr Mann ungerührt in der Werkstatt arbeitete, in das Krankenhaus von Hof eingeliefert, wo sie wenig später an den ihr zugefügten Verletzungen starb.
Diesmal wurde Scherer des Totschlags angeklagt und zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt Die Kinder kamen, weil keine sonstigen Angehörigen aufzutreiben waren, in ein Waisenhaus in der Nähe von Bayreuth, wo ihr Leben in Zukunft ruhiger und friedlicher verlaufen sollte.
Engler predigte jeden Sonntag von Liebe und Gottvertrauen, von Demut und Nächstenliebe, die Kirche war stets vollbesetzt. Er war und blieb der beliebte Pfarrer. Tag für Tag sah man ihn durch Waldstein laufen. Aber auch Englers Zeit neigte sich dem Ende zu, Prostatakrebs fraß seinen Körper von innen auf, und eines Abends sagte Reuter ihm, er habe noch maximal ein Jahr zu leben.
Die Vandenbergs residierten weiter wie Könige etwas oberhalb von Waldstein. Sie erledigten ihre Geschäfte in München, in Frankfurt, Paris oder New York. Sie waren und blieben die ehrbare, angesehene Familie des Ortes, der seinen Wohlstand allein ihnen zu verdanken hatte.
Jonas Vandenberg war, wie von dem einen oder andern befürchtet, nicht zum Ministerpräsidenten gewählt worden, weil ein cleverer und wagemutiger Journalist eine Schmiergeldaffäre aufdeckte, in die Jonas verstrickt war. Er hatte wieder einmal – einmal zuviel – jemanden gekauft, und diesmal war er erwischt worden. Nach dieser so schmerzlichen Niederlage, dieser bitteren Schmach, hatte Jonas Vandenberg sich eine Zeitlang zurückgezogen und sich in einen Zustand des Vollrausches versenkt, bevor er sich besann und sich wieder den wichtigen Dingen des Lebens zuwandte. Er begann sein Image aufzupolieren, und er würde mit Sicherheit, wenn seine Weste wieder unbefleckt und strahlend schien, für die nächsten Wahlen kandidieren.
Bliebe nur noch Brackmann. Er hatte nicht gewonnen, er hatte lediglich Teilsiege errungen. Er hatte die Spielregeln gelernt. Was ihn aber stolz machte, war, daß Sarah und Csilla nicht nach Waldstein zurückkehrten. Sarah hatte von Österreich aus die Scheidung betrieben und das Sorgerecht für Josephine beantragt, und wenn nichts
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