Der Fledermausmann
bin es, Harry. Ich schieße!«
Er ließ sich nach vorne fallen. Nicht, weil er sich nicht mehr aufrecht halten, sondern weil er seinen Arm nicht mehr heben konnte. Dann nahm er die schwarze Gestalt ins Visier und drückte ab.
Der erste Schuß klatschte direkt vor Toowoomba ins Wasser, der weiterrannte. Harry zielte ein bißchen weiter nach hinten. Es platschte direkt hinter Toowoomba. Der Abstand betrug jetzt beinahe hundert Meter. Ein absurder Gedanke schoß Harry durch den Kopf: Alles war wie in der Trainingshalle in Ø kern – die Lampen an der Decke, das Echo der Schüsse an den Wänden, der Pulsschlag im Finger am Abzug und die tiefe, meditative Konzentration.
Wie in der Trainingshalle in Økern, dachte Harry, und drückte zum dritten Mal ab.
Toowoomba stürzte nach vorne.
Harry erklärte später, er nehme an, der Schuß müsse Toowoombas linken Oberschenkel getroffen haben und somit sei er sicher nicht tödlich gewesen. Natürlich wußten aber alle inzwischen, daß das die reinste Spekulation war, denn es war unmöglich, zu sagen, wo man einen Mann auf hundert Meter Entfernung mit einer Dienstwaffe getroffen hatte. Harry hätte sagen können, was er wollte, ohne daß ihm jemand das Gegenteil hätte beweisen können. Denn es gab keine Leiche, die man hätte obduzieren können.
Toowoomba lag mit dem linken Arm und Bein im Wasser und schrie, während Harry über die Pontonbrücke rannte. Ihm war schwindelig und übel, und alles begann vor seinen Augenunscharf zu werden – das Wasser, das Licht an der Decke und die hin- und herschwappende Brücke vor ihm. Während Harry rannte, mußte er an Andrews Worte denken. Daß die Liebe ein größeres Wunder als der Tod sei. Und er mußte an die alte Erzählung denken.
Das Blut rauschte stoßweise in seinen Ohren, und Harry war der junge Krieger, Walla, und Toowoomba die Schlange Bubbur, die Wallas Geliebter, Moora, das Leben genommen hatte. Und jetzt mußte Bubbur getötet werden. Aus Liebe.
In der später folgenden Erklärung konnte McCormack nicht mehr sagen, was Harry Holy in das Mikrophon geschrien hatte, nachdem sie die Schüsse gehört hatten.
»Wir haben nur gehört, daß er rannte und etwas schrie, vermutlich in seiner Muttersprache.«
Auch Harry konnte nicht mehr sagen, was er gerufen hatte.
Harry rannte in einer Art Wettlauf mit dem Tod über die Pontonbrücke. Es zuckte in Toowoombas Körper. Ein Ruck, der die ganze Pontonbrücke erzittern ließ. Harry glaubte zuerst, daß etwas an die Brücke gestoßen sein mußte, doch dann erkannte er, daß er im Begriff war, um seine Beute betrogen zu werden.
Es war das Seeungeheuer.
Es reckte seinen weißen Totenschädel aus dem Wasser und riß seinen Schlund auf. Alles geschah ganz langsam, wie im Kino. Harry war sich sicher, daß es Toowoomba mit sich reißen würde, aber es bekam ihn nicht richtig zu fassen, und es gelang ihm nur, den schreienden Körper etwas weiter ins Wasser zu zerren, bevor es unverrichteter Dinge noch einmal abtauchen mußte.
Keine Arme, dachte Harry und erinnerte sich an einen Geburtstag vor langer, langer Zeit bei Großvater in Åndalsnes. Damals hatten sie versucht, nur mit dem Mund Äpfel aus einem Wasserfaß zu fischen, und Mutter hatte so lachen müssen, daß sie sich anschließend hinlegen mußte.
Er war noch dreißig Meter entfernt. Er glaubte schon, es zu schaffen, doch da tauchte der große Hai wieder auf. Er war so nah, daß Harry sehen konnte, wie er seine kalten Augen in voller Ekstase nach hinten rollte, wobei er ihm triumphierend seine doppelte Zahnreihe präsentierte. Diesmal gelang es ihm, einen Fuß zu packen. Dann schlug er mit dem Kopf hin und her. Wasser spritzte hoch, und Toowoomba wurde wie eine gliedlose Puppe durch die Luft geschleudert. Sein Schreien verstummte schlagartig. Harry war jetzt an der Stelle angekommen.
»Du Scheiß-Monster! Er gehört mir !« schrie er mit tränenerstickter Stimme, hob die Pistole und feuerte ins Wasser, bis sein Magazin leer war. Das Wasser hatte einen klaren, durchsichtigen Rotton, wie rote Limonade, und unter sich sah Harry das Licht des unter dem Wasser liegenden Tunnels, in dem Erwachsene und Kinder zusammenströmten, um dem Ende beizuwohnen, einem echten Naturdrama mit all seinem Grauen, einem Festessen, das in seiner Medienwirksamkeit dem Clownsmord in nichts nachstehen würde.
22 Die
Tätowierung
G ene Binoche sah nicht nur so aus, er hörte sich auch so an wie jemand, der sein ganzes Dasein
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