Der Fledermausmann
erklärte Andrew, während sie sich durch den dichten Verkehr am Circular Quay schoben.
»Die kommen alle, um sich das Opernhaus anzuschauen, eine Hafenrundfahrt zu machen und dann noch einen Blick auf die Mädchen am Bondi Beach zu werfen. Schade, daß du arbeiten mußt.«
Harry zuckte mit den Schultern.
»Das ist schon in Ordnung. In diesen Touristenfallen krieg ich doch nur Schweißausbrüche und Wutanfälle.«
Sie bogen in die New South Head Road ein, und der Toyotabeschleunigte hastig in östlicher Richtung auf die Watson Bay zu.
»Der Osten von Sydney ist nicht gerade der Osten von London«, erklärte Andrew, während sie eine noble Villa nach der anderen passierten. »Diese Gegend hier heißt Double Bay. Wir nennen sie Double Pay.«
»Wo hat Inger Holter gewohnt?«
»Sie wohnte eine Weile zusammen mit ihrem Freund in Newtown, doch nachdem sie sich getrennt hatten, zog sie in ein kleines Einzimmerappartment in Glebe.«
»Freund?«
Andrew zuckte mit den Schultern.
»Er ist Australier, Computerfachmann. Kennengelernt hat er sie, als sie vor zwei Jahren hier Urlaub machte. Er hat ein Alibi für die Mordnacht, und außerdem ist er wirklich nicht der Prototyp eines Mörders. But ya never know, do ya?«
Sie parkten den Wagen vor dem Eingang zum Gap Park, einer der zahlreichen grünen Lungen von Sydney. Steile Steintreppen führten zu dem windumtosten Park hinauf, der hoch über der Watson Bay im Norden und dem Stillen Ozean im Osten lag. Die Hitze schlug ihnen entgegen, als sie die Autotüren öffneten. Andrew setzte ein große Sonnenbrille auf, die Harry an einen heimlichen Pornokönig erinnerte. Aus irgendeinem Grund trug sein australischer Kollege heute einen engen Anzug, und Harry fand, daß dem kräftigen schwarzen Mann, der die Treppe zum Aussichtspunkt hochkeuchte, etwas Komisches anhaftete.
»Das ist der Stille Ozean, Harry. Nächster Stop Neuseeland, circa zweitausend nasse Kilometer entfernt.«
Harry schaute sich um. Im Westen erblickte er das Zentrum mit der Hafenbrücke, im Norden den Strand und die Segelboote der Watson Bay und ganz hinten am Ende der Bucht die kleine, grüne Siedlung Manly. Richtung Osten krümmte sich der Horizont in einem Spektrum der unterschiedlichsten Blautöne. Die Klippen vor ihnen fielen senkrecht ab, und weitdort unten beendeten die Wellen ihre lange Reise in einem gewaltigen Crescendo zwischen den Steinen.
»Okay, Harry, jetzt stehst du auf historischem Boden«, sagte Andrew. »1788 schickten die Engländer das erste Boot mit Strafgefangenen nach Australien. Sie wollten sich in der Botany Bay, etwas weiter südlich von hier, ansiedeln, doch glücklich angekommen, meinte der gute Kapitän Philipp, daß die Landschaft dort zu karg sei, und er schickte ein kleines Boot nach Norden an der Küste entlang, um nach etwas Besserem Ausschau zu halten. Das Boot umrundete die Landzunge, auf der wir jetzt stehen, und fand den besten Hafen der Welt. Etwas später kam Kapitän Philipp mit dem Rest der Flotte; elf Schiffe, 750 Strafgefangene, Frauen und Männer, 400 Seeleute, vier Marinekompanien und Verpflegung für zwei Jahre. Aber dieses Land ist schwieriger als es aussieht, es gelang den Engländern nicht, die Natur so zu nutzen, wie es die Aborigines im Laufe der Jahre gelernt hatten. Als zweieinhalb Jahre später das nächste Versorgungsschiff anlegte, waren die Engländer drauf und dran, zu verhungern.«
»Es sieht so aus, als wenn es mit der Zeit besser geworden wäre.« Harry nickte in Richtung der grünen Hügel von Sydney und spürte, wie ein Schweißtropfen zwischen seinen Schulterblättern herabrann. Die Wärme ließ ihn eine Gänsehaut bekommen.
»Für die Engländer trifft das wohl zu«, sagte Andrew und spuckte über die Kante der Steilküste. Sie folgten der Spucke mit den Augen, bis sie sich im Wind auflöste.
»Sie kann froh sein, daß es ihr erspart blieb, den Sturz mitzuerleben«, sagte er. »Sie muß beim Herabstürzen an die Klippen geschlagen sein, es waren Fleischfetzen aus ihrem Körper gerissen, als man sie fand.«
»Wie lange war sie schon tot?«
Andrew schnitt eine Grimasse. »Der Polizeiarzt sagt 48 Stunden. Aber der . . .«
Er legte die Spitze seines Daumens an den Mund. Harry nickte. Der Polizeiarzt schien eine durstige Seele zu sein.
»Und du wirst skeptisch, wenn die Zahlen zu rund sind?«
»Sie wurde Freitagmorgen gefunden, laß uns also davon ausgehen, daß sie im Laufe der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag starb.«
»Gab es
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