Der Fliegende Holländer
wohnte, und die beiden beschlossen, es zu besuchen. Das taten sie jedesmal, wenn sie nach England kamen, und vergaßen dabei immer, daß das Mädchen bereits 1606 gestorben war. Außerdem war das Grundstück, auf dem einst das Haus gestanden hatte, mittlerweile zu einem Parkplatz umfunktioniert worden. Trotzdem ließen sie stets einen Zettel zurück, auf dem stand, daß es ihnen leid täte, sie nicht angetroffen zu haben, aber daß es beim nächsten Mal bestimmt klappen werde. Seit Errichtung des Parkplatzes mußten sie den Zettel jedesmal hinter den Scheibenwischer eines der geparkten Autos klemmen. Einmal hatten sie eine solche Nachricht am Wagen eines passionierten und bewanderten Stadthistorikers hinterlassen. Nachdem er sie gelesen hatte, soll er noch Monate später ziemlich indisponiert gewesen sein.
Der rundliche junge Mann, der bei derselben Firma wie das Mädchen als Finanzbuchhalter tätig war, wenn auch in einer gehobeneren Position, bereitete sich eine Tasse Zitronentee zu. Er versuchte zu vergessen, daß er eine Aufführung des Fliegenden Holländers im Covent Garden – bei der die Neustadt den Part der Senta gesungen hatte – an eine Kulturbanausin wie Jane Doland verschwendet hatte. Neben seiner beruflichen Karriere liebte er Opern über alles, und letzteres nicht zu schätzen zu wissen, war ein unverzeihliches Verbrechen. Er öffnete den Aktenkoffer, schaltete den elektronischen Taschenrechner ein und legte dann eine CD mit Wagners Rienzi auf. Langsam wie die Rückkehr des Frühlings begann die Wunde zu heilen.
2. KAPITEL
Die National Lombard Bank liegt mitten im Herzen der City von Bridport. Dabei handelt es sich um einen jener Prachtbauten, an den jeder vor Aktivität strotzende Bankmanager sofort sein Herz verlieren würde, direkt im Epizentrum eines magischen Dreiecks gelegen, das von den drei verlockendsten Attraktionen der Stadt gebildet wird – dem Fish’n’Chips-Laden, der Post und der Verkehrsampel. Im Sommer nehmen komplette Familien die beschwerliche Reise aus dem Umland bis in die Innenstadt von Bridport auf sich, nur um dort herumzustehen und das verwirrende Licht- und Klangspektakel an diesem Verkehrsknotenpunkt zu bewundern. Obwohl es mittlerweile selbst in Charmouth eine Verkehrsampel gibt – ein wohlüberlegter und hinterhältiger Versuch, Feriengäste anzulocken, was zwischen den beiden einst befreundeten Gemeinden viel Zwietracht gesät hat –, bestehen Puristen darauf, daß die in Bridport ein reineres Grün, ein satteres Rot und ein funkelnderes Gelb hat als irgendeine andere Ampel westlich von Dorchester.
Für eine genußsüchtige Londonerin wie Jane Doland bedeutete die Bridporter Verkehrsampel lediglich eine weitere Unterbrechung auf ihrem Weg zu einer nicht sonderlich erfreulichen Verabredung, und mit der geistigen Phantasielosigkeit einer Großstädterin nahm sie an, daß die Kinder, die sich um die Ampel scharten, lediglich darauf warteten, die Straße überqueren zu können. Sie hatte keinen Stadtplan von Bridport dabei, aber sie fand die Bank auch so, indem sie einfach geradeaus guckte, als sie aus dem Kreisverkehr auf die Hauptstraße abbog. Ist das nun eine Bank oder ein Witz? fragte sie sich. Jedenfalls war schon der erste Eindruck eine Entschädigung dafür, die Londoner Premiere von Crocodile Dundee 9 verpaßt zu haben.
Die Ursachen bedeutsamer Ereignisse sind häufig von einer derart verwirrenden Vielschichtigkeit, daß selbst die erfahrensten Historiker keine Erklärung darauf wissen. Ganze Generationen von klugen Zeitzeugen haben sich an den größten Universitäten bereits die grauen Haare gerauft, bis sie eine Glatze bekamen und zu guter Letzt senil wurden, während sie über den eigentlichen Anfängen des englischen Bürgerkriegs, des Bauernaufstands oder des Aufstiegs Hitlers brüteten; und es ist bis heute fraglich, ob man jemals die Wahrheit erfahren wird. Im Gegensatz dazu waren die Gründe, weshalb sich Jane Doland zwei Jahre (vielleicht auch eine Woche mehr oder weniger) nach dem Besuch des Fliegenden Holländers in Bridport aufhielt, geradezu bemerkenswert einleuchtend. Kaiser Augustus, Adoptivsohn Julius Cäsars, hatte einst ein Dekret verfaßt, die ganze Welt mit Steuern zu belegen, und da bereits dieser Erlaß einige tückische Fallen bezüglich vorauszuzahlender Körperschaftssteuer in sich geborgen hatte, war in dem führenden Steuerberaterbüro Großbritanniens, in dem Jane Doland eine belanglose und schlechtbezahlte Position
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