Totenwache - Thriller
Prolog
Universität Pittsburgh, Medizinische Fakultät, 1973
Der junge Mann legte die Brille auf die Ablage neben dem Waschbecken. Dann beugte er sich nach vorn und klatschte sich mit den Händen mehrmals kaltes Wasser ins Gesicht. Er zog ein grobes braunes Papierhandtuch aus dem Spender, richtete sich wieder auf und musterte sich im Spiegel. Du schaffst das, murmelte er leise. Immerhin hast du mit deinen fünfundzwanzig Jahren schon in Bioethik promoviert. Du schaffst das.
»Guten Morgen«, sagte er laut. »Ich bin Dr. Julian Zohar.«
Zu forsch. Verdammt noch mal. Die kleine Tochter der Leute ist ja kaum eine halbe Stunde tot. Er setzte die Brille wieder auf und betrachtete sich im Spiegel.
»Ich bin Dr. Julian Zohar«, sagte er feierlich. »Zuerst einmal möchte ich Ihnen mein herzliches … mein ganz herzliches … mein tief empfundenes Beileid aussprechen. Wie furchtbar, was Ihrer kleinen Angela« - er nahm eine Akte von dem Waschtisch, schlug sie auf und ließ den Finger über die Seite gleiten - »Ihrer kleinen Angelita da widerfahren ist.« Gut gemacht, Julian. Wenigstens der Name sollte stimmen.
Er holte tief Luft, sammelte nochmals seine Gedanken und fing wieder von vorne an.
»Ich bin Koordinator der Zentralen Organbank der hiesigen
Universität.« Um Gottes willen, wie das schon klingt. Er schlug die Akte erneut auf und studierte das Formular:
Vater: Tejano Juarez, 31 Jahre alt, Landschaftspfleger.
Mutter: Belicia Juarez, 26 Jahre alt, Haushaltshilfe.
»Ich bin Dr. Julian Zohar«, murmelte er, »und ihr seid wahrscheinlich zwei arme Bohnenfresser und nach sechs Jahren Schule irgendwo in Westtexas unter einem Zaun durchgekrochen. Koordinator der Organbank. Or-ganbank. Comprende ›Organbank‹? Ihr wisst schon.«
Er legte die Akte beiseite und ging gestikulierend vor den Waschbecken auf und ab.
»Ah, hallo. Ich heiße Julian Zohar. Ich komme gerade hier vorbei. Was hör ich da? Eure vierjährige Tochter ist heute früh in einem Abwassergraben ertrunken? Klingt aber gar nicht gut. Da wir schon mal dabei sind: Es soll ja Leute geben, die ihre inneren Organe nicht mehr benötigen, und das gilt ja nun wohl auch für eure kleine Tochter. Wie wär’s, wenn ihr mir ihre Organe überlasst? Ich meine - nicht alle, bloß die Nieren. Riñones, sagt ihr, glaube ich. Wäre das möglich? Oh, echt geil. Wenn ihr hier noch bitte schnell die Formulare unterzeichnet, seid ihr mich schon wieder los. Und tut mir echt leid wegen Angie - oder Amy, oder wie hieß die Kleine noch mal?«
Er blieb einen Augenblick in der Mitte des Raumes stehen. Dann ging er wieder zum Waschbecken, drehte den Hahn auf und beobachtete, wie das Wasser über seine Hände lief. So vergingen einige Minuten.
Schließlich betrachtete er sich noch mal im Spiegel, neigte sich ein wenig nach vorn und zeigte auf sein Gesicht.
»Ich bin Dr. Julian Zohar«, sagte er bedächtig. »Ich habe ungefähr vor einer Stunde von dem tragischen Tod Ihrer Tochter erfahren. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das tut. Das ganze Ausmaß Ihres Schmerzes und Ihres
Kummers kann ich natürlich nur erahnen. Aber ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen, dass der Tod Ihrer Tochter nicht völlig umsonst gewesen ist. Selbst jetzt, selbst im Tod kann sie einem anderen kleinen Mädchen das Leben retten. Nur ein paar Meilen von hier entfernt liegt in der Kinderklinik von Pittsburgh ein kleines Mädchen, das gerade elend an terminalem Nierenversagen zugrunde geht. Ihre Tochter hat die richtige Größe und die passende Blutgruppe, und es dürfte zwischen den beiden Mädchen eine hinreichende Gewebeverträglichkeit geben. Daher möchte ich Sie bitten, die Nieren Ihrer Tochter zur Transplantation freizugeben. Andernfalls ist das andere kleine Mädchen zum Tode verurteilt. Es liegt in Ihrer Macht, das zu verhindern. Ein kleines Mädchen ist heute früh gestorben. Bitte helfen Sie dabei, dass einem zweiten kleinen Mädchen dieses Schicksal erspart bleibt.«
Genau in diesem Augenblick ging die Tür auf, und ein Priester trat ein.
»Bitte verzeihen Sie die Störung«, sagte er. »Ich suche Julian Zohar.«
»Das bin ich.«
»Ich bin Pater Anduhar«, sagte der Mann und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich habe heute früh telefonisch von dem tragischen Verlust der Familie Juarez erfahren.«
» Ich habe Sie jedenfalls nicht angerufen«, erwiderte Julian.
»Der Koordinator der Familienbetreuung hat mich angerufen. Wenn ich ihn recht verstanden habe,
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