Der Fluch der Druidin
leid. Aber ich mag unsere Augenfarbe. Nicht so aufdringlich wie die deiner Mutter.«
Sumelis lachte. Sie wusste, sie hatte Carans stolze Gesichtszüge geerbt, das etwas längliche Gesicht mit der langen geraden Nase und den fast schwarzen Augen. Zusammen mit ihrer hellen Haut, die sie mit ihrer Mutter teilte, und dem gewellten dunklen Haar war sie nicht nur im Norden eine ungewöhnliche Erscheinung.
Sumelis machte einen halbherzigen Versuch, ihre Haare unter die enganliegende Haube auf ihrem Kopf zu stopfen, gab es aber schnell wieder auf. Stattdessen hakte sie sich bei ihrem Großvater unter. Sie war so groß, dass ihre Stirn über Carans ergrauten Bart strich, als sie einen Moment lang eng beieinanderstanden. Dann trat sie seufzend wieder einen Schritt zurück. Offiziell war sie lediglich ein Gast in Carans Haus, die Tochter eines befreundeten Händlers. Niemand außerhalb von Carans Haushalt wusste, wer sie wirklich war: die Enkelin des mächtigsten Mannes der Vindeliker und Tochter Talias – der Frau, an die sich die Bewohner der Stadt noch immer, trotz der langen Zeit, die seither vergangen war, mit einer Mischung aus Schrecken und Ehrfurcht erinnerten.
Zehn Jahre war es nun her, seit Talia mit der damals siebenjährigen Sumelis aus Alte-Stadt geflohen war, kurz nachdem sie die Stadt vor Dago, dem König der Boier, und seinen zwanzigtausend Kriegern, die gekommen waren, um Alte-Stadt einzunehmen, gerettet hatte. Talia hatte Dago getötet – mit Hilfe jener einzigartigen Gabe, die auch in Sumelis’ Adern brannte und welche die vindelikischen Druiden ebenso sehr fürchteten wie neideten: die Macht, Seelen sehen zu können. Die Bewohner der Stadt hatten es Talia jedoch nicht gedankt, dass sie sie alle gerettet hatte. Angestachelt vom damaligen Hohedruiden, hatten sie Talia und ihrer Tochter nichts als Angst und Ablehnung entgegengebracht. »Hexe« hatten sie sie genannt, böse Zauberin und eine Gefahr für das Volk. Schließlich war Talia nichts anderes übriggeblieben, als fortzugehen. Sie und Sumelis hatten Atharic und seinen Stamm in den Norden begleitet, zu einem fremden Volk, das eine fremde Sprache sprach und fremde Götter anbetete. Sie waren niemals mehr nach Alte-Stadt zurückgekehrt.
»Ich kann dich leider nicht zurück zum Hof bringen«, sagte Caran entschuldigend. »Ich habe noch etwas zu erledigen. Eine Überraschung für Samis.«
Sumelis nickte. »Mach dir keine Sorgen, ich komme schon zurecht.«
Er drückte ein letztes Mal ihren Arm, dann kletterte er den Wall an der Innenseite der Stadtmauer hinab. Eine Zeitlang konnte sie ihn von oben noch beobachten, wie er die Straße entlanglief, bis er schließlich zwischen den mit Holzschindeln und Stroh gedeckten Gebäuden verschwand. Ein paar Tropfen fielen aus dem grauen Himmel, und Sumelis schlang sich ihren kurzen Umhang aus Schafswolle enger um die Schultern. Die Wachen am Tor blickten neugierig zu ihr hinüber, denn der Wehrgang in der Nähe der Tore war normalerweise kein Aufenthaltsort für Frauen, daher beeilte sie sich, die Stadtmauer zu verlassen.
Sie bemerkte nicht die dunkle Gestalt, die sich aus den Schatten neben dem Torhaus löste und ihr im Abstand von dreißig Schritten folgte.
Es nieselte leicht, als Sumelis die Hauptstraße hinter sich ließ und den Weg zu Carans Hof einschlug. Sie zog die Schultern hoch und senkte den Blick auf den Boden. Ihre Schritte trugen sie rasch die Straße entlang, obwohl sie immer wieder Pferdeäpfeln, Hundekot und Pfützen, in denen brackiges Wasser stand, ausweichen musste. Sie rümpfte die Nase über den Gestank aus den Gräben, die entlang des geschotterten Wegs verliefen, und war beinahe froh, dass die dunklen Wolken am Horizont heftigen Regen versprachen. Das Wasser würde den Unrat fortspülen und Alte-Stadt von dem Dreck, der sich den Winter über angesammelt hatte, reinigen. Das war auch bitter nötig: Der Geruch der Stadt, als Sumelis sie das erste Mal nach zehn Jahren wieder betreten hatte, hatte sie wie ein Schlag ins Gesicht getroffen. Sie war den Gestank von Tausenden von Menschen und Vieh einfach nicht gewohnt, denn wo sie herkam, im Norden, gab es keine Städte, keine Mauern aus Stein mit gewaltigen Tor- und Wachanlagen, die Höfe, Handwerkerhäuser, Speicher, Wohnhäuser reicher Händler oder Herren, Straßen, Tempel, Felder und Weiden schützend umgaben. Sumelis hatte auch nur ein einziges Mal mehr als tausend Nordmänner versammelt gesehen: vor zehn Jahren, als die Kimbern an
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