Der Fluch vom Valle della Luna
Tresen eingenommen wurde, noch in dem kleinen Gastraum dahinter. Also stieg Nelly in die erste Etage hinauf und entdeckte sie ganz hinten an einem Fenster, das auf die Salita Pollaiuoli hinausging. Gedankenverloren saß sie da und schreckte auf, als Nelly den Stuhl zurückzog, um sich ihr gegenüber zu setzen.
»Ciao, Sa.«
»Ciao, Nelly.«
Während sie den Parka auszog, nahm sie ihre Freundin in Augenschein. Sandra war unverschämt braun für die Jahreszeit und trug, den Speckröllchen und den drallen Brüsten zum Trotz, ein schreiend rotes enges Kleid aus leichter Wolle. Das dunkle, halblange Haar verriet die häufigen Friseurbesuche. Die unvermeidlichen Goldketten um den Hals und an den Handgelenken machten das Gesamtbild komplett. Über der Stuhllehne hing, den Tierschützern Hohn lachend, eine Nerzjacke.
»Schön, dich zu sehen, meine Liebe. Wie gut, dass du mich angerufen hast, ich hab im Büro schon Schimmel angesetzt.«
»Echt? War der Superbulle nicht da, um dich aufzuheitern?«
Sandra lächelte verschmitzt. Mit dem Superbullen war der Polizeivize Tano Esposito gemeint, Nellys Vorgesetzter. Nelly kniff die nussbraunen Augen zusammen und verzog das Gesicht.
»Worauf willst du hinaus, hm?«
Sandra grinste vielsagend. »Komm schon, ihr wart doch zusammen im Bett. Sag mir, dass ihr’s endlich getan habt. Der ist so schnuckelig!«
»Was redest du denn da, Sa? Du weißt ganz genau, dass ich mit Carlo zusammen bin. Daran gibt’s nichts zu rütteln. Und außerdem gefällt Carlo dir doch auch, du sagst selbst immer, er sei perfekt für mich, was soll das also?« Totale Überreaktion. Tja, wenn einen das Gewissen kneift ... Nelly lächelte, um den Ärger in ihrer Stimme zu mildern. Sandra hob beschwichtigend die Hände.
»Hey, der Kapitän ist für mich natürlich nicht zu toppen. Er ist ein wunderbarer, verlässlicher Mann, genau der richtige für dich, das stimmt. Aber er ist nie da. Der Superbulle hingegen ist immer verfügbar. Eigentlich ideal.«
Fast zu ideal. Wenn du wüsstest! Es fällt mir wirklich schwer, dir was vorzumachen, mein Schatz, aber ich kann mit niemandem darüber reden, nicht mal mit dir.
»Du weißt doch, dass ich treu bin.« Wieder Lächeln und Augenzwinkern.
Sandra zuckte mit den Achseln.
»Na, dann bist du vielleicht gar nicht meine Freundin Nelly, die mit mir in der Lasterbude gewohnt und nichts ausgelassen hat. Vielleicht kommst du aus einem Paralleluniversum und siehst nur so aus wie die echte Nelly. Oder du sagst mir nicht die Wahrheit.«
Der Kellner, der an den Tisch kam, um die Bestellung aufzunehmen, half Nelly aus der Klemme. Sie entschied sich für einen Punt e Mes, Sandra für einen Negroni. Draußen war es inzwischen ganz dunkel geworden, die Passanten hasteten vorbei, auf dem Weg zu einem warmen, geschützten Ort, weg aus den engen, ungemütlich kalten und feuchten Straßen. Das Lokal füllte sich mit den Bewohnern der benachbarten Gassen, mit Studenten und Angestellten, die gerade aus dem Büro kamen. Die üblichen Gesichter des Viertels, frustrierte Alt-Achtundsechziger, Studenten zwischen zwanzig und dreißig und angehende Künstler zwischen fünfunddreißig und fünfzig. Die jungen Leute – und nicht nur die – bestellten Aperitifs, die mit reichlich Häppchen daherkamen, sodass man für wenig Geld praktisch zu Abend aß. Genau das war auch Sandras und Nellys Vorhaben. Die Kommissarin blickte sich um und versuchte dabei erfolglos, ihre widerspenstigen Locken zu bändigen, während sie hoffte, dass ihre Freundin nicht weiter nach Carlo und Tano fragen würde. Doch ihre Sorge war völlig unbegründet. Es war offensichtlich, dass die etwas ganz anderes im Kopf hatte. Auch sie beobachtete schweigend die übrigen Gäste und wirkte irgendwie besorgt. Der Kellner kehrte zurück und stellte zwei Gläser und einen bunt bepackten Teller vor ihnen ab. Die beiden Freundinnen stießen an und machten sich über Focaccia, Kartoffelbällchen, Minipizzas, Omeletteecken, Oliven und Knabberzeug her. Eine gespannte Erwartung lag in der Luft, doch Sandra brauchte noch einen Moment.
»Mau? Alles okay in Mailand?«
Nelly verschluckte sich fast an einem allzu großen Happen und hustete, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Peinlich berührt blickte sie sich um, doch niemand schien die kleine Bestrafung ihrer Gier mitbekommen zu haben, sie waren alle zu sehr mit sich selbst oder mit ihren Tischgenossen beschäftigt: angespannte, verschlossene Gesichter, deren Ausdruck Nelly
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