Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
Baggerschaufeln. Von Böhm keine Spur.
    Ich kehrte um und suchte das Haus des Wächters. Ich fand den Nachtwächter vor seinem Fernseher sitzen. Er aß ein Sandwich, während sein Hund Fleischklöße aus dem Napf in sich hineinschlang. »Böhm?« fragte er mit vollem Mund. »Vorgestern ist er gekommen und zum Wachtturm gegangen. Wir haben die Leiter rausgeholt.« Ich erinnerte mich an das Höllengerät, das der Ornithologe benutzte, um zum Nest hinaufzusteigen: eine uralte, halb vermoderte Feuerwehrleiter. »Aber ich hab’ ihn seitdem nicht mehr gesehen. Er hat nicht mal sein Zeug aufgeräumt.« Der Mann zuckte die Achseln und fügte hinzu: »Böhm ist hier zu Hause. Er kommt und geht, wie es ihm paßt.«
    Zum Zeichen, daß die Unterredung für ihn beendet sei, biß er von seinem Sandwich ab. Eine dumpfe Ahnung überkam mich.
    »Würden Sie sie noch mal rausholen?«
    »Wen?«
    »Die Leiter.«
    Wir gingen hinaus in den Sturm, und der Hund drängte sich zwischen unsere Beine. Der Wächter stapfte schweigend neben mir her, sichtlich verstimmt über mein nächtliches Unterfangen. Am Fuß des Wachtturms schloß er die Tür zu der daneben liegenden Scheune auf. Wir zogen die Leiter heraus, die auf einen zweirädrigen Karren montiert war. Das Gerät schien mir gefährlicher denn je, doch mit Hilfe des Wächters löste ich die Ketten, die Rollen, die Kabel, und die Leiter fuhr langsam ihre Sprossen aus; die Spitze schwankte im Wind.
    Ich schluckte und machte mich vorsichtig an den Aufstieg. Je höher ich stieg, desto weniger vermochte ich zu sehen - Sturm und Höhe nahmen mir die Sicht. Mit den Händen klammerte ich mich an die Sprossen, in meinem Magen taten sich Abgründe auf. Zehn Meter. Ich konzentrierte mich auf die Mauer und stieg weiter. Fünfzehn Meter. Die Holzstangen waren feucht, meine Sohlen glitten darauf aus. Die Leiter schwankte in ihrer gesamten Länge und schlug mir gegen die Knie, die Stoßwellen liefen durch meine Beine. Ich wagte einen Blick nach oben und sah, daß das Nest nur noch eine Armlänge entfernt war. Ich hielt den Atem an und erklomm die letzten Sprossen, indem ich mich an den Zweigen des Nests festhielt. Die Störche flogen auf. Einen Moment lang sah ich nichts als ein Gewölk durcheinanderwirbelnder Federn; und als es vorbei war, packte mich das Grauen.
    Vor mir lag Böhm ausgestreckt auf dem Rücken, mit offenem Mund. In dem riesigen Nest fand er leicht Platz. Sein offenes Hemd gab den Bauch frei, weiß, obszön, erdverschmiert. Seine Augen waren nur noch zwei leere, blutige Höhlen. Ich weiß nicht, ob diese Störche je kleine Kinder brachten - auf Tote jedenfalls verstanden sie sich.

 
2
     
    Aseptisches Weiß, Klirren von Metall, schattenhafte Gestalten. Um drei Uhr morgens saß ich in dem kleinen Krankenhaus von Montreux und wartete. Die Türen der Notaufnahme öffneten und schlossen sich, Krankenschwestern eilten vorbei, Gesichter hinter Masken tauchten auf, gleichgültig gegenüber meiner Anwesenheit.
    Der Wächter war in seinem künstlichen Dorf geblieben, er stand unter Schock. Ich war selbst nicht in Bestform; ich zitterte vor Kälte und war unfähig, klare Gedanken zu fassen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch nie eine Leiche gesehen, und für das erste Mal war Böhm wahrlich kein erhebender Anblick. Die Störche hatten damit begonnen, seine Zunge und andere, tiefer liegende Teile des Schlundes zu verschlingen. Auf dem Unterleib und an den Seiten hatte man zahlreiche Wunden entdeckt: Risse, Schnitte, Hiebe. Mit der Zeit hätten die Vögel ihn vollständig aufgefressen. »Sie wissen, daß Störche sich auch von Aas ernähren, nicht wahr?« hatte mir Max Böhm bei unserer ersten Begegnung gesagt. Ich hatte es nicht gewußt; vergessen werde ich es ganz sicher nie mehr.
    Unter den langsam und argwöhnisch kreisenden Vögeln hatte die Feuerwehr die Leiche aus dem Nest geborgen. Zum letzten Mal hatte ich Böhms blut- und erdverkrusteten Körper auf dem Boden liegen sehen, bevor man ihn in einen knisternden Sack steckte. Ich hatte das gespenstische Schauspiel beim zuckenden Blaulicht der Polizeifahrzeuge beobachtet, ohne ein Wort zu sagen und ohne, wie ich gestehen muß, das Geringste dabei zu verspüren. Ich empfand lediglich eine Art Abwesenheit, eine sprach- und fassungslose Distanz.
    Jetzt wartete ich. Ich dachte zurück an die letzten zwei Monate - eine erfüllte Zeit in meinem Leben, voller eifriger Vorbereitungen und Vögel - die jetzt mit einer Grabrede zu Ende gingen.
    Ich war

Weitere Kostenlose Bücher