Der Flug der Stoerche
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Ich hatte Max Böhm versprochen, ihm vor dem großen Aufbruch noch einen letzten Besuch abzustatten.
An dem Tag braute sich über der französischen Schweiz ein Unwetter zusammen. Am Himmel ballten sich bläulich-schwarze Wolkenmassen, zwischen denen glashelle Abgründe klafften, und ein heißer Wind wehte aus allen Richtungen. Ich fuhr in einem gemieteten Kabrio am Ufer des Genfer Sees entlang. In einer Kurve tauchte Montreux auf, wie ein Schemen in der elektrisch geladenen Luft. Der See schlug unruhige Wellen, und die Hotels schienen, trotz der Touristensaison, zu düsterem Schweigen verurteilt. Kurz vor dem Zentrum verringerte ich das Tempo und bog in die engen Gassen ein, die zur Oberstadt hinaufführen.
Als ich vor Max Böhms Chalet eintraf, herrschte beinahe Finsternis: Es war fünf Uhr nachmittags. Ich läutete, keine Antwort. Ich läutete abermals und lauschte. Drinnen rührte sich nichts. Ich drehte eine Runde ums Haus: kein Licht, kein offenes Fenster. Sonderbar. Bei meinem ersten Besuch hatte ich Böhm als einen eher pünktlichen Menschen kennengelernt. Ich kehrte zu meinem Wagen zurück und wartete. In der Ferne wälzte sich ein dumpfes Grollen über den Himmel, und ich schloß das Verdeck des Wagens. Um siebzehn Uhr dreißig war Böhm noch immer nicht erschienen. Ich beschloß, zum Freigelände zu fahren: vielleicht war der Ornithologe unterwegs und beobachtete seine Schützlinge.
Über Bulle im Kanton Fribourg gelangte ich in die deutsche Schweiz. Es regnete noch immer nicht, aber der Wind hatte seine Stärke verdoppelt und wirbelte Staubwolken unter meinen Reifen auf. Eine Stunde später war ich in der Umgebung von Wessembach und fuhr die Felder entlang bis zum Gelände. Ich schaltete den Motor aus und ging zu Fuß durch die Äcker zu den Käfigen.
Hinter dem Gitterzaun entdeckte ich die Störche. Orangefarbene Schnäbel, schwarzweiße Gefieder, lebhafte Augen. Sie schienen unruhig, schlugen wild mit den Flügeln und klapperten mit den Schnäbeln - sicher wegen des aufziehenden Gewittersturms, aber wohl auch aus ihrem Wandertrieb heraus. Böhms Worte kamen mir in den Sinn: >Die Störche gehören zu den instinktiven Zugvögeln. Der Zeitpunkt des Abflugs hängt nicht von klimatischen oder ernährungsbedingten Umständen ab, sondern wird durch eine innere Uhr bestimmt. Eines Tages ist es ganz einfach Zeit zum Aufbruch.< Wir hatten Ende August, und anscheinend spürten die Störche das geheimnisvolle Signal. Auf den Weiden nicht weit von hier flatterten weitere Störche auf und nieder, gebeutelt vom Wind. Auch sie drängte es zum Aufbruch, aber Böhm hatte ihnen an einem Flügel die Schwungfedern gestutzt, um sie am Abflug zu hindern. Dieser >Freund der Natur<, als der er sich bezeichnete, hatte eine recht merkwürdige Auffassung von der Ordnung der Welt.
Auf einmal tauchte aus den benachbarten Feldern ein Mann auf, der nur aus Haut und Knochen bestand; er ging gebeugt und stemmte sich gegen den Wind. Der Geruch von frischgeschnittenem Gras brach mit Macht über mich herein, und ich spürte, wie unter meiner Schädeldecke ein Schmerz emporkroch. Aus der Ferne schrie mir das Gerippe auf deutsch etwas zu. Ich brüllte ein paar französische Sätze zurück, woraufhin er mir sofort in derselben Sprache antwortete: »Böhm ist heute nicht gekommen. Gestern auch nicht.« Der Mann war weitgehend kahl; nur über seiner Stirn tanzten ein paar faserige Strähnen, die er unermüdlich auf dem Schädel glattstrich. Er fügte hinzu: »Normalerweise kommt er jeden Tag und füttert seine Viecher.«
Ich stieg wieder ins Auto und fuhr eilig zum >Eco-musee<, einem Freilichtmuseum nicht weit von Montreux, wo man traditionelle Schweizer Sennhäuser bis ins kleinste Detail nachgebaut hatte. Unter Max Böhms Oberaufsicht war auf jedem Kamin ein Storchenpaar angesiedelt worden. Ich hatte das künstliche Dorf bald erreicht. Zu Fuß machte ich mich auf den Weg durch verlassene Gassen und irrte lange Zeit in dem Labyrinth braunweißer Häuser umher, in denen das Nichts zu hausen schien. Endlich entdeckte ich den Wachtturm, ein düsteres, quadratisches Bauwerk, mehr als zwanzig Meter hoch. Auf der Spitze thronte ein Storchennest von riesigem Ausmaß, nur die äußeren Umrisse waren davon zu sehen. »Das größte Nest Europas«, hatte Max Böhm gesagt. Dort oben auf ihrem Kranz aus Zweigen und Erde hockten die Störche, und das Klappern ihrer Schnäbel hallte durch die leeren Gassen wie das Getöse aufeinanderprallender
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