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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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mitangesehen. Sie waren in einer Kneipe gewesen, um ein Bier zu trinken. Ein paar Jugendliche spotteten über Henrys Hut. Die beiden ließen sich nicht stören. Dann griff einer der Jungen nach dem Hut, was ihm Henry verwehrte. Es entstand eine Rangelei. Henry bot dem Jungen Prügel an, und sie gingen hinaus. Zuvor gab Henry seinen Hut dem Kollegen. Die anderen Jungen folgten den beiden. Auch er, Herr Krämer, stand auf und ging ihnen nach. Ein paar Schritte vor der Kneipe standen Henry und der Junge, umgeben von den anderen. Henry hatte die Fäuste erhoben und tänzelte vor dem Jungen.
    Er war früher Boxer, wußten Sie das?
    Ich wußte es nicht.
    Henry tänzelte professionell, und die Jungen lachten über ihn. Er machte ein paar Schläge in die Luft, als ob er sich warm machen wollte. Dann schlug der Junge zu. Henry fiel um. Er fiel steif wie ein Stock nach hinten. Der Junge mußte etwas wie einen Schlagring benutzt haben.
    Als Henry bewegungslos auf dem Boden lag, rannte Herr Krämer zu ihm. Henry hatte die Augen geschlossenund rührte sich nicht. Über seiner linken Schläfe war die Haut gerissen, er blutete etwas. Der Kollege hielt ihn für ohnmächtig. In Wirklichkeit war Henry bereits tot. Die Jungen umstanden ihn. Dann rannte einer von ihnen weg, andere rannten ihm nach. Ein Junge sagte zu Herrn Krämer, er solle die Schnauze halten, sonst sei er dran. Aus der Kneipe kamen Leute und fragten, was passiert sei. Herr Krämer bat sie, einen Arzt und die Polizei kommen zu lassen. Er hielt noch immer den Filzhut in der Hand. Zu dieser Zeit vermutete er, daß Henry tot war. Später wurde er verhört und nach Hause geschickt. Am nächsten Morgen holte ihn die Polizei aus dem Betrieb ab. Sie hatten alle Jugendlichen auf dem Revier, und er wurde ihnen gegenübergestellt. Der Junge, der Henry niedergeschlagen hatte, heulte. Er war siebzehn Jahre alt. Die meisten der Jungen waren minderjährig, keiner von ihnen älter als zwanzig. Dann konnte Herr Krämer wieder gehen. Der Beamte, der ihn hinausbegleitete, fragte ihn, warum er nicht eingegriffen hätte. Er habe ihm geantwortet, daß alles sehr schnell abgelaufen sei. Henry habe gelächelt, als er sich mit dem Jungen prügeln wollte. Er sei gelangweilt hinausgegangen. Er, der Kollege, habe nicht geglaubt, daß er sich wirklich prügeln wollte.
    Ich mache mir jetzt Vorwürfe, sagte Herr Krämer, aber glauben Sie mir, es war seine Schuld. Ich konnte nichts tun.
    Ich verstehe Sie, sagte ich.
    Er blickte mich weiter hoffnungsvoll an, als könnte ich ihn von einer Schuld freisprechen. Von einer Schuld, die er sich einbildete und von der er sich deswegen um so schwerer befreien konnte.
    Da ich nichts sagte, begann er mit seinem Bierglas zu spielen. Er blickte auf seine Hände, als er leise vor sich hin murmelte: Es ist ein großes Unglück. Auch für mich ist es ein großes Unglück.
    Ich nickte. Über die Beerdigung konnte er nichts sagen.Die Polizei hatte die Leiche nicht freigegeben. Ich wußte, es konnte Wochen dauern, bis man ihn endlich bestatten würde.
    Als ich mich verabschiedete, fragte er, ob wir uns nicht noch einmal sehen könnten. Schließlich hätten wir beide einen Freund verloren. Er sah sehr hilflos aus.
    Es würde uns nicht helfen, sagte ich freundlich.
    Dann ging ich. Ich ging rasch, denn ich fürchtete, er würde mir folgen. Ich ging so schnell, daß ich außer Atem kam. Ich fand es lächerlich von mir, davonzulaufen.
    In den nächsten Tagen dachte ich viel an Henry. Meine Gedanken kreisten immer wieder um ihn. Ich überlegte, was er für ein Mensch gewesen war, aber ich kam zu keinem Ergebnis. Es war ein schwammiges, unklares Gedenken, ein schwerfälliges, entschlußloses Grübeln.
    Meinen Dienst tat ich unverändert, nur zu Hause saß ich viel herum.
    In den Zeitungen stand nichts über ihn. Ich hatte es auch nicht erwartet. Der Fall war gelöst, es gab nichts aufzuklären.
    Einen Monat später, Mitte Mai, war die Beerdigung. Ich hatte kein Bedürfnis, hinzugehen, ging aber dennoch. Ich fühlte mich in dieser Zeit nicht besonders gut, ich war niedergeschlagen. Ich trauerte nicht um Henry, es war wohl nur Selbstmitleid. Ich fühlte mich verlassen, im Stich gelassen. Ich mußte mich zwingen, wieder völlig allein zu leben.
    Ende Mai zog ein alter Mann in Henrys Wohnung ein. Es berührte mich merkwürdig, als ich das erste Mal nach Henrys Tod hörte, wie ein Schlüssel seine Wohnungstür aufschloß. Ich blieb stehen und sah zu, wie sich die Tür öffnete und

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