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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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ich den Übergangsmantel aus dem Schrank. Es war ein dunkelblauer Mantel, man konnte ihn für schwarz halten, mit einer Pelzschale von Kanin. Es war gewiß kein geeignetes Kleidungsstück für einen Sommertag, aber ich wollte auch nicht die ganze Zeit in einem dunklen Kostüm herumspazieren. Und in einem hellen Kleid auf dem Friedhof zu erscheinen, falls ich mich entschließen sollte, schien mir gleichfalls unpassend. Der Mantel war ein Kompromiß. Falls ich wirklich hingehen würde. Ich legte ihn über den Arm, bevor ich die Wohnungstür verschloß.
    Am Fahrstuhl mußte ich warten. Der Offizier aus Frau Rupprechts Wohnung stand zwischen den beiden Türen des Fahrstuhlschachtes. Er drückte unaufhörlich die zwei Knöpfe. Auch er trug einen Mantel über dem Arm, eine Art Regenpelerine für Militärs. Vielleicht gehörte er nicht zur Armee, sondern zur Polizei. Ich weiß die Uniformen nicht zu unterscheiden. Unter der Pelerine ragte eine Tasche hervor, ein Diplomatenkoffer. Er hatte mir zugenickt, als ich kam, und sich dann wieder stumm den Knöpfen des Fahrstuhls zugewandt. Mit der Stiefelspitze klopfte er nervös einen Takt.
    Irgendwo in der Tiefe des Schachtes hörte ich ein Rauschen, ein Vibrieren von Stahlseilen, das Versprechen auf eine erwünschte Veränderung, eine Hoffnung, die geduldig macht. Dann erschien das Licht hinter dem kleinen Glasfenster. Der Offizier schob die Tür zurück und stieg in den besetzten Fahrstuhl. Mit dem wulstigen Mantel auf dem Arm drängte ich mich ihm hinterher. Die unbewegten Gesichterwurden abweisender. Eine schweigende Fahrt in die Tiefe. Zweimal hielt der Lift, aber keiner verließ ihn und keiner kam herein. Stumm starrte ich in Gesichter, aus allernächster Nähe, und wurde ebenso stumm und direkt gemustert. Ein Sichkennenlernen mit allen Sinnen, unerwünscht, besonders kränkend für den Geruchssinn.
    Unten angelangt, warf ich einen Blick auf die Briefkästen. Es waren nur Zeitungen zu sehen, die Post kam später. Am Schwarzen Brett hing noch die Todesanzeige. Ein Vordruck, auf dem mit blauem Kugelschreiber der Name, der Friedhof und eine Uhrzeit eingetragen waren. Irgend jemand hatte die Karte mit einer Reißzwecke angeheftet. Wahrscheinlich der Hausmeister. Er wird die Todesanzeige mit der Post erhalten haben. Irgendwann wird er über jeden eine solche Anzeige bekommen, über jeden, der hier stirbt. Und das wird, zusammen mit einem reparierten Wasserhahn und einer ins Schloß gefallenen Tür, die er mit einem Schraubenzieher und einer kräftigen Bewegung der Schulter wieder öffnet, der einzige persönliche Kontakt sein, den er mit den Mietern hat.
    Ich glaube nicht, daß irgend jemandem diese Anzeige etwas bedeutet. In meinem Haus sterben zu viele Leute. Hier wohnen einfach zu viele alte Leute. Da hängen jeden Monat diese schwarzumränderten Karten im Hausflur, drei, vier Tage lang, bis sie jemand abreißt. Ich glaube nicht, daß Henry hier außer mir jemanden kannte. Er hätte es mir sicher gesagt.
    Ich legte den Mantel hinten in den Wagen und fuhr in die Klinik.
    Unter meiner Tür lag ein Brief. Der Chef bat mich, mit ihm am Nachmittag zum Bürgermeister zu gehen. Er hatte eine Aussprache verlangt, da die Wohnungskommission der Klinik zwei Zimmer gestrichen hatte. Unser Kontingent an Wohnraum war bislang nie eingeschränkt worden. Wir brauchen die Zimmer für neue Krankenschwestern,die wir aus der Provinz holen. Sie fangen bei uns nur an, wenn wir sie in Berlin mit einem Zimmer versorgen können. Weshalb ich mitgehen sollte, wußte ich nicht. Vielleicht nahm er an, ich sei noch immer die Sozialbeauftragte der Gewerkschaft. Ich hatte die Funktion im vergangenen Jahr abgegeben. Vielleicht wollte er auch nur etwas Unterhaltung. Der Chefarzt war dafür bekannt, daß er gern mit Gefolge auftrat. Ich sollte ihn gleich anrufen.
    Viertel nach acht erschien Karla, die Schwester. Wie immer stürzte sie in mein Zimmer und sagte, daß sie sich ein kleines bißchen verspätet habe, ich wüßte ja, die Kinder. Karla verspätet sich jeden Tag ein kleines bißchen und immer mit einem Hinweis auf ihre Kinder. Vermutlich erwähnt sie ihre Kinder in der Annahme, bei mir ein schlechtes Gewissen zu wecken. Sie ist dieser Typ Frau, der unbeirrt an der Mutterrolle festhält. Das kuhäugige, warme Glück, das lassen wir uns nicht nehmen, da weiß man doch, wozu man lebt. Für die Kinder, die für die Kinder leben, die für die Kinder. Offenbar ist die Menschheit einem Zirkelschluß

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