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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Am Anfang war eine Landschaft.
    Der Hintergrund ein Zypressengrün, ein schmaler Streifen vor kristallen-leuchtender Leere. Dann eine Brücke, sie führt über einen Abgrund, über eine Schlucht, einen tiefliegenden Bach. Beim Näherkommen – weniger ein Laufen, Schreiten, fast wie eine Kamerafahrt – zeigt sich, sie ist brüchig, eine Ruine. Zwei Balken über einem grundlosen Boden. Ich oder die Person, die vielleicht ich selbst bin, zögert. Ich – behaupten wir es – sehe mich um. Mein Begleiter, sein Gesicht bleibt traumverschwommen, ein Mann, sicher ein Bekannter, ein Freund, hebt die Hände. Wir müssen hinüber. Unmöglich ist es uns umzukehren. Wir müssen auf die andere Seite des Abgrunds. In der Tiefe Felsbrocken, Ginsterbüsche und, nur ahnbar, das Wasser. Wir betreten die Brücke. Mich fröstelt. Die ersten drei, vier Schritte begleitet uns noch Brückengeländer, das ich umklammere. Dann endet es, zersplittert, stumpf in die Luft ragend, abrupter Torso. Mein Begleiter stellt einen Fuß auf den Balken und reicht mir die Hand. Er schiebt sich vorwärts, quer zum Balken stehend, einen Fuß wenige Zentimeter vor, den anderen nachziehend. Ich streife die Schuhe ab, greife seine Hand, der linke Fuß ertastet den Boden, den Balken. Seine Hand ist schweißnaß. Er soll mich loslassen, denke ich. Jeder für sich. Aber er hat sich unlösbar in meine Hand gekrallt, läßt sie nicht frei. Ich starre zum Waldstreifen hinüber, unverwandt, um nicht hinunterzublicken. Der Blick in die Tiefe. Ich weiß, wenn ich hinuntersehe, falle ich. Wir stehen am Anfang, und der Balken scheint kein Ende zu haben. Langsam schieben wir uns weiter. Unerwartet eine Bewegung im Hintergrund, eine Veränderung im Zypressengrün. Unerkennbar im Flirren der Luft noch, dann überdeutlichvor der gleißenden Leere. Fünf Läufer kommen aus dem Wald, einer hinter dem anderen. Sie tragen kurze weiße Hosen, und ihre Sporthemden sind mit einem runenartigen Zeichen versehen. Ich will meinen Begleiter darauf aufmerksam machen. Ich rede, ich schreie, aber ich höre nichts. Ich höre mich nicht reden. Die Läufer nähern sich der Brücke. Unserer Brücke. Sie laufen gleichmäßig, mit den eleganten, regelmäßigen Bewegungen von Maschinen. Es sind junge, muskulöse Männer mit offenen, strahlenden Gesichtern, keuchend und doch nicht angestrengt. Erstaunt entdecke ich ihre Ähnlichkeit, es könnten Geschwister sein. Fünflinge, die auf die geborstene Brücke zurennen. Sie sollen anhalten, schreie ich ihnen entgegen. Es bleibt still. Mein Mund bewegt sich tonlos. Es erschreckt mich, daß ich die Gesichter der Läufer erkennen kann. Sie haben nicht das zerfließende Wolkengesicht meines Begleiters. Deutlich kann ich jeden Gesichtszug erfassen, konturiert, markant, Männergesichter. Sie haben die Brücke erreicht. Sie behalten ihr Tempo bei. Auf dem zweiten Balken stürmen sie uns entgegen, an uns vorüber, auf das andere Ufer zu. Ich sehe ihre gleichmäßigen Bewegungen, ihren keuchend geöffneten Mund, doch es bleibt still. Ein tonloser Auftritt. Mein Begleiter hat sich fest an mich geklammert. Seine Fingernägel bohren in meinen Arm. Wir stehen erstarrt. Der Balken, auf dem die Läufer den Abgrund überquerten, zittert noch, wird ruhig. Wir könnten weitergehen. Oder doch besser zurück. Aber für uns gibt es keine Umkehr, wir müssen zur gegenüberliegenden Seite. Und es ist aussichtsloser geworden. Dann verschwinden die Bilder. Ein Nebel oder Grau oder Nichts. Und jetzt kommt der Ton. Die regelmäßigen Tritte der Läufer, wie ein gleichmäßig hämmerndes Uhrwerk. Der wippende Balken, das leise Pfeifen einer Amplitude. Schließlich ein nachhallender, hoher Ton. Bildlos. Asynchron.
    Später, viel später, der Versuch einer Rekonstruktion.Wiederherstellung eines Vorgangs. Erhoffte Annäherung. Um zu greifen, um zu begreifen. Ungewiß bleibt seine Beschaffenheit. Ein Traum. Oder ein fernes Erinnern. Ein Bild, mir unerreichbar, letztlich unverständlich. Dennoch vorhanden und beruhigend in dem Namenlosen, Unerklärlichen, das ich auch bin. Schließlich vergeht der Wunsch. Vorbei. Die überwirkliche Realität, meine alltäglichen Abziehbilder schieben sich darüber, bunt, laut, vergeßlich. Heilsam. Und nur der Schrecken, die ausgestandene Hilflosigkeit bleibt in mir, unfaßbar, unauslöschlich.

1
    Noch am Morgen der Beerdigung war ich unschlüssig, ob ich hingehen sollte. Und da ich nicht wußte, wie ich mich bis zum Mittag entscheiden würde, nahm

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