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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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ich Henrys Frau die Hand gab, spürte ich die Erde. Wir sahen uns an. Ihre Augen waren regungslos, ein Blick voll Trauer und Haß, als wollte sie sich mein Gesicht unauslöschlich einprägen. Eine unschöne, verbitterte Frau, die fortgesetzt ihr Leben befragte, um den Schuldigen für so viel Banalität und verblichene Hoffnungen zu finden. Sie wird dich schlagen, sagte ich mir, sie wird dich am offenen Grab ihres Mannes ohrfeigen. Der Gedanke belustigte mich. Mit einer schnellen Bewegung entzog ich ihr meine Hand und ging an den Kindern vorbei. Dann reichte mir der Pfarrer seine Hand. Ich wartete, daß er mir etwas sagen würde, einen belanglosen Satz mit seiner weichen Stimme. Doch er drückte mir nur die Hand und strahlte mich routiniert mitleidig an. Schade, Herr Pfarrer. Wenige Schritte vom Grab entfernt versammelten sich die Trauergäste erneut. Sie warteten dort auf das Ende der Zeremonie, auf die Frau, die Kinder. Ich ging schnell an ihnen vorbei und hoffte nur, mich jetzt nicht zu verlaufen. Ich glaubte, die Blicke der Frau in meinem Rücken zu spüren. Nach einer Wegbiegung nahm ich endlich den Mantel ab und legte ihn über den Arm, wobei ich mich umdrehte. Ich sah nur Gräber und unbewegliche, staubige Bäume.
    Dann fuhr ich mit dem Auto ziellos durch die Stadt. Später trank ich in einem Café in der Nähe meiner Wohnung einen Kognak und versuchte, mich an Henry zu erinnern. Ein sakraler Akt, ich meinte, ihm dies schuldig zu sein. Zwei Männer kamen an meinen Tisch und setzten sich. Sie wollten mit mir reden. Sie waren angetrunken. Einer hatte eine dunkelrote Hautflechte auf dem rechten Wangenknochen. Sie bestellten für sich und mich Schnaps. Ich lehnte ab. Ich wollte an Henry denken, an den toten Henry, an eine Beerdigung, an die sanfte, erregende Stimme eines Pfarrers. Dann gab ich es auf.

2
    Ich kannte Henry ein Jahr. Er wohnte in der gleichen Etage des Hochhauses, in der ich noch heute meine Wohnung habe. Es ist ein Gebäude mit Einzimmerwohnungen. Man nennt sie jetzt Appartements. Als Kind, ich meine als Halbwüchsige, hatte ich mir unter Appartement etwas anderes vorgestellt. Sie kamen viel in den Romanen vor, die ich damals las. Das waren Zimmer mit kostbaren Gardinen und goldenen Leuchtern, einer Dame im Abendkleid und einem Herrn im Frack oder korrekten Anzug. Räume, in denen einem fortgesetzt die Sinne schwinden mußten. Unsere Appartements sind anders. Hier wohnen nur Alleinstehende, Unverheiratete wie ich und alte Leute. Im Sommer stinkt es nach dem Müllschlucker und manchmal nach Klo. Radiomusik dudelt den ganzen Tag durchs Haus. Selbst am Sonntagmorgen. Überhaupt steckt das Haus voller Geräusche. Sie dringen durch die Wände ein, über die Rohrleitungen. Ein undeutliches, gleichbleibendes Gemisch von Stimmen. Man gewöhnt sich daran, hört es nicht mehr. Still ist es hier nur spät nachts. Dann wandert das Knacken der Heizungsrohre durchs Haus.
    Ich weiß nicht, wann Henry hier einzog. Die Mieter in diesem Haus wechseln sehr häufig. Die Jungen heiraten, und die Alten sterben. Man wohnt hier nur auf Abruf. Zwischenstation. Es lohnt nicht, Bekanntschaften zu machen, was ich ohnehin nicht schätze. Bekannte, die im gleichen Haus wohnen, haben immer etwas Aufdringliches. Allein der Umstand, daß man sie täglich treffen könnte, die Unausweichlichkeit eines Gesprächs, einer erforderlichen Freundlichkeit belastet solche Bekanntschaft. Wenn man geschieden ist, wird der Drang, irgendwelchen gleichbleibenden, täglichen, unvermeidlichen Verbindlichkeiten zuentgehen, offenbar größer. Ich will nicht mehr Tag für Tag in fremde Gesichter starren, die nur deswegen zu mir gehören sollen, weil es immer die gleichen sind. Unveränderliche Vertrautheit, der ich ausgeliefert bin. Ich ziehe das diskretere Verhältnis zu den Möbeln in meiner Wohnung vor. Sie sind unaufdringlicher. Ihre Anwesenheit hat den Charme von Noblesse. Aber auch das ist mir gleichgültig.
    Damals, im April oder Mai, stand ich vor dem Fahrstuhl und wartete. In diesem Haus wartet man immer auf den Fahrstuhl. Vielleicht weil die alten Leute zu oft auf die falschen Knöpfe drücken. Aber vielleicht sind zwei Fahrstühle für ein Haus mit einundzwanzig Stockwerken und so vielen Mietern einfach zuwenig.
    Ich sah, wie am Ende des Gangs Frau Rupprecht erschien, meine Nachbarin. Die alte Dame kam einige Schritte auf mich zu, ihr Kopf zitterte. Dann blieb sie stehen, faßte sich an die Schläfe, ihre Augen flackerten hilflos in den

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