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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Verschwinden hätte man sofort bemerkt. Und außerdem war da ja noch die Karte eines amerikanischen Unternehmens«, gab Tan siegessicher zu bedenken. »Die einzigen Westler, denen der Aufenthalt in Lhadrung gestattet wird, sind die Leiter unseres ausländischen Anlageprojekts, und die sind viel zu auffällig, um nicht vermißt zu werden. In zwei Wochen werden die ersten amerikanischen Reisegruppen zu Besuch kommen. Aber bis jetzt sind noch keine da.« Tan zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und drückte sie aus. »Es freut mich, daß du Interesse an dem Fall zeigst.«
    Shans Blick richtete sich an Tan vorbei auf den Wahlspruch. Das Volk braucht Wahrheit. Der Satz ließ mehr als eine Deutung zu. »Fall?« fragte er.
    »Es wird eine Untersuchung und einen formellen Bericht geben müssen. Ich bin im Bezirk Lhadrung auch für die Rechtsprechung zuständig.«
    Shan fragte sich, ob diese Feststellung als Drohung gemeint war. »Meine Gruppe war nicht als erste am Fundort«, sagte er zögernd. »Falls der Ankläger Aussagen benötigt, sollte er mit den Wachen sprechen. Die haben genauso viel gesehen wie wir. Ich habe bloß ein paar Steine beiseite geräumt.« Er rutschte zur Kante seines Stuhls vor. Hatte man ihn eventuell aus Versehen herzitiert?
    »Der Ankläger hat einen Monat Urlaub und ist nach Dalian an die Küste gefahren.«
    »Die Mühlen der Justiz sind daran gewöhnt, langsam zu mahlen.«
    »Diesmal nicht. Immerhin sind amerikanische Touristen hierher unterwegs, und einen Tag vor ihnen trifft eine Kontrollgruppe des Justizministeriums hier ein. Die erste Inspektion seit fünf Jahren. Ein ungeklärter Todesfall könnte einen falschen Eindruck vermitteln.«
    Shans Magen krampfte sich zusammen. »Der Ankläger muß doch Stellvertreter haben.«
    »Nein, es gibt sonst niemanden.« Tan lehnte sich zurück und musterte Shan. »Aber du, Genosse Shan, warst früher der Generalinspekteur des Wirtschaftsministeriums.«
    Es hatte kein Versehen gegeben. Shan stand auf und ging zum Fenster. Das kurze Stück schien ihn sämtliche Kraft zu kosten. Er fühlte seine Knie weich werden. »Das ist lange her«, sagte er schließlich. »Das war in einem anderen Leben.«
    »Du warst für die Aufdeckung der beiden größten Korruptionsfälle verantwortlich, die Peking jemals erlebt hat. Während deiner Amtszeit hast du Dutzende von Parteifunktionären in Zwangsarbeitslager geschickt. Oder einem noch schlimmeren Schicksal überantwortet. Anscheinend gibt es ein paar Leute, die nach wie vor mit Hochachtung von dir sprechen, auch wenn sie dich fürchten. Jemand aus deinem alten Ministerium hat gesagt, ihm sei völlig klar, warum du im Gefängnis gelandet bist: du seist der letzte ehrliche Mann in Peking gewesen. Manche glauben, du wärst in den Westen gegangen und noch immer dort.«
    Shan starrte aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen. Seine Hand zitterte.
    »Andere behaupten, du wärst zwar gegangen, aber das Büro hätte dich zurückgeholt, weil du zuviel weißt.«
    »Ich bin niemals Ankläger gewesen«, sagte Shan. »Ich habe nur Beweise gesammelt.«
    »Wir sind zu weit weg von Peking, um eine derartige Haarspalterei zu betreiben. Ich war mal Ingenieur und habe eine Raketenbasis befehligt«, sagte Tan zu Shans Rücken. »Dann hat irgend jemand beschlossen, ich sei qualifiziert dafür, einen Bezirk zu verwalten.«
    »Ich verstehe das nicht«, sagte Shan heiser und lehnte sich gegen das Fenster. »Das war ein anderes Leben. Ich bin nicht mehr derselbe.«
    »Du hast deine gesamte Berufszeit als Ermittler verbracht. Drei Jahre sind nicht so lang.«
    »Man könnte jemanden von außen hinzuziehen.«
    »Nein. Das würde womöglich als...«, Tan suchte nach dem passenden Wort, »... mangelnde Eigenständigkeit ausgelegt werden.«
    »Aber meine Akte«, protestierte Shan. »Ich bin erwiesenermaßen... « Seine Stimme verklang. Er drückte die Hände gegen das Glas. Wenn er wollte, könnte er die Scheibe zerbrechen und springen. Falls deine Seele im perfekten Gleichgewicht ist, sagte Choje, wirst du einfach in eine andere Welt gleiten.
    »Erwiesenermaßen was? Ein Dorn in Zhongs Auge?« Tan schlug die dicke Mappe auf und blätterte durch die Seiten. »Ich würde außerdem sagen, du hast dich als scharfsinnig erwiesen. Methodisch. Verantwortungsbewußt, auf deine eigene Weise. Und als Überlebender. Für Männer wie dich steht das Überleben an erster Stelle.«
    Shan brauchte nicht nachzufragen, was Tan damit meinte. Er starrte auf seine

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