Der fremde Tibeter
Aber wenn man als Gefangener in einer chinesischen Zwangsarbeitsbrigade schuften mußte, stellte die Aussicht auf ein Dasein als Vierbeiner bisweilen eine verlockende Alternative dar.
Shan rappelte sich auf und lief weiter. Er packte Trinles Arm, gerade als der sich über den Rand beugte. Im selben Moment erkannte Shan, daß er Trinles Verhalten völlig falsch gedeutet hatte. Der Mönch schaute prüfend auf etwas herab. Keine zwei Meter unter ihnen befand sich ein Sims, das kaum breit genug war, um einem Schwalbennest Platz zu bieten. Auf diesem Sims lag ein funkelnder goldener Gegenstand. Ein Feuerzeug.
Ein aufgeregtes Murmeln wanderte wie eine Woge durch die Reihen der Häftlinge. Die khata war zurück über den Kamm getrieben worden und stürzte nun fünfzehn Meter vor der Arbeitskolonne auf den Abhang.
Mittlerweile hatten die Wachen sie erreicht, stießen Verwünschungen aus und griffen nach ihren Schlagstöcken. Als Trinle sich von der Kante abwandte und nach dem Gebetsschal Ausschau hielt, drehte Shan sich zu seiner umgestürzten Schubkarre um. Sergeant Feng, langsam und grauhaarig, aber stets wachsam, stand neben den ausgeschütteten Felsbrocken und schrieb in sein Kontrollbuch. Der Straßenbau war Dienst am Sozialismus. Wenn jemand seine Arbeit verließ, beging er damit eine weitere Sünde gegen das Volk.
Noch während Shan schwerfällig zurückstapfte, um Fengs Zorn über sich ergehen zu lassen, ertönte oberhalb am Hang ein lauter Aufschrei. Zwei der Gefangenen hatten die khata holen wollen und waren zu dem Felshaufen geeilt, neben dem der Schal lag. Jetzt ließen die beiden sich auf die Knie fallen, wichen zurück und stimmten fieberhaft eine Litanei an. Ihr Mantra traf die anderen Häftlinge wie ein plötzlicher Windstoß. Jeder der Männer kniete im selben Moment nieder, in dem es an seine Ohren drang, und nahm in schneller Folge den wiederkehrenden Sprechgesang auf, so daß kurz darauf die gesamte Brigade bis hinunter zu den Lastwagen an der Brücke im Gebet vereint war. Nur Shan und vier andere, die einzigen Han-Chinesen unter den Zwangsarbeitern dieser Brigade, blieben stehen.
Feng brüllte wütend, lief nach vorn und blies in seine Pfeife. Shan wunderte sich über den Sprechgesang, denn es hatte sich doch gar kein Selbstmord ereignet. Aber die Worte waren unverkennbar. Es handelte sich um die Anrufung Bardos, die Eröffnungsrezitation der Todeszeremonien.
Ein Soldat lief den Hügel hinauf. Seine Jacke war mit vier Taschen versehen, den verbreitetsten Rangabzeichen der chinesischen Volksbefreiungsarmee. Leutnant Chang, der Offizier der Wache, flüsterte etwas in Fengs Ohr, woraufhin der Sergeant den Han-Gefangenen zurief, sie sollten den Felshaufen abtragen, den die Tibeter entdeckt hatten. Shan stolperte zu der Stelle vor, an der die khata niedergegangen war, und kniete sich neben Jilin, den langsamen, kräftigen Mandschu, den alle hier nur unter dem Namen seiner Provinz kannten. Als Shan den Schal in seinen Ärmel stopfte, nahm Jilins verdrießliches Gesicht einen erwartungsvollen Ausdruck an. Mit plötzlich anwachsendem Elan schob er die Felsen beiseite.
Die Männer der vorderen Arbeitsgruppe, deren Aufgabe darin bestand, die größten Geröllblöcke und losen Steine wegzuräumen, waren Unerwartetes gewohnt. Häufig fanden sie ausrangierte Töpfe oder den Schädel eines Yaks entlang der Routen, die von den Ingenieuren der Volksbefreiungsarmee vermessen worden waren. In einem Land, in dem die Toten nach wie vor den Geiern zum Fraß überlassen wurden, waren sogar menschliche Gebeine kein unüblicher Anblick.
Im Schotter lag eine halb aufgerauchte Zigarette. Jilin schnurrte vor Behagen und schnappte sich den Stummel. Da erschien neben ihnen ein Paar blankpolierter Stiefel. Shan richtete sich auf und sah, wie Leutnant Chang erschrak. Die Hand des Soldaten zuckte zu der Pistole an seinem Gürtel. Sein gellender Schrei erstarb ihm auf den Lippen, und er stellte sich hinter Feng.
Diesmal war die 404. Baubrigade des Volkes schneller als die Geier gewesen. Der Leichnam lag im Kreis der Steine, die ihn bedeckt hatten. Shan erkannte sofort, daß die Schuhe des Toten aus echtem Leder und von teurer westlicher Machart waren. Im V-Ausschnitt des Pullovers glänzte der frisch gebügelte Kragen eines weißen Hemds.
»Aus Amerika«, flüsterte Jilin respektvoll und meinte damit nicht die Leiche, sondern die Kleidung.
Der Mann trug neue Bluejeans - nicht etwa den fadenscheinigen chinesischen Denim, den
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