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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Strafe habe ich abgesessen«, versicherte er hartnäckig.
    Shan glaubte, einen gewissen Unterton zu erkennen, der auf Ruhe und Selbstdisziplin schließen ließ. »Haben Sie in den Bergen studiert?« fragte er.
    Die Verärgerung kehrte sofort wieder zurück. »Das Volk hat mich mit einem Universitätsstudium in Chengdu betraut.«
    »Ich habe ein gompa gemeint.«
    Yeshe erwiderte nichts darauf. Er ging durch den Raum, blieb vor der hinteren Wand stehen und stellte die Stühle im Halbkreis auf, als sollte ein tamzing abgehalten werden.
    »Warum sind Sie geblieben?« fragte Shan.
    »Letztes Jahr hat man neue Computer hergeschickt. Niemand vom Personal konnte damit umgehen.«
    »Ihre Umerziehung hat darin bestanden, die Gefängniscomputer zu bedienen?«
    Der hochgewachsene Tibeter runzelte die Stirn. »Meine Umerziehung hat darin bestanden, den Inhalt der Gefängnislatrinen nach der nächtlichen Leerung auf die Felder zu verteilen«, sagte er und bemühte sich ungeschickt, möglichst stolz auf seine Arbeit zu wirken, ganz wie die Politoffiziere es ihm vermutlich beigebracht hatten. »Aber dann stellte man fest, daß ich ein bißchen über Computer Bescheid weiß. Ich begann damit, als Teil meiner Rehabilitierung im Büro der Verwaltung auszuhelfen, indem ich zum Beispiel die Abrechnungen überprüft oder die Berichte in die von Peking verlangten Dateiformate umgewandelt habe. Am Tag meiner Entlassung hat man mich gebeten, noch ein paar Wochen zu bleiben.«
    »Demnach besteht für Sie als früherer Mönch die Rehabilitierung inzwischen darin, bei der Inhaftierung anderer Mönche behilflich zu sein.«
    »Wie bitte?«
    »Ich bin nur immer wieder aufs neue erstaunt, was man im Namen der Rechtschaffenheit alles erreichen kann.«
    Yeshe schreckte verwirrt zurück.
    »Vergessen Sie's. Was für Berichte?«
    Yeshe begann wieder, im Raum auf und ab zu gehen. Sein ruheloser Blick schweifte von Sergeant Feng an der Tür zurück zu Shan. »Letzte Woche waren es Berichte über die Arzneimittelvorräte. In der Woche davor ging es um den Getreideverbrauch der Häftlinge pro Kilometer ausgebauter Straße. Wetterbedingungen. Überlebensraten. Und wir haben versucht, den Grund für das Verschwinden von Armeevorräten herauszufinden.«
    »Man hat Ihnen nicht erzählt, weshalb ich hier bin?«
    »Sie schreiben einen Bericht.«
    »Auf dem Gelände der Baustelle bei den Drachenklauen wurde die Leiche eines Mannes gefunden. Es muß eine Akte für das Ministerium erstellt werden.«
    Yeshe lehnte sich gegen die Wand. »Sie meinen, der Tote war keiner der Häftlinge?«
    Die Frage bedurfte keiner Antwort.
    Da erkannte Yeshe auf einmal, was für ein Hemd Shan trug. Er bückte sich und schaute unter dem Tisch auf Shans verschlissene Schuhe aus Pappe und Vinyl, dann zurück zu Feng.
    »Man hat Ihnen nichts davon erzählt«, sagte Shan. Es war eine Feststellung, keine Frage.
    »Aber Sie sind kein Tibeter.«
    »Und Sie sind kein Chinese«, hielt Shan dagegen.
    Yeshe wich vor ihm zurück. »Es muß ein Mißverständnis vorliegen«, flüsterte er und ging mit ausgestreckten Händen auf Sergeant Feng zu, als würde er an dessen Barmherzigkeit appellieren wollen.
    Feng deutete zur Antwort lediglich in die Richtung, in der das Büro des Direktors lag. Yeshe kehrte mit kleinen, gezierten Schritten um und setzte sich vor Shan hin. Zerstreut musterte er abermals Shans Schuhe, schien dann offenbar seine Gedanken zu ordnen und schaute auf. »Wird man Sie dafür verantwortlich machen?« fragte er und konnte seine Bestürzung kaum verbergen.
    »Wofür?« Shan war erstaunt, wie berechtigt diese Frage klang.
    Yeshe starrte ihn mit großen Augen an, als sei er zufällig einem bislang unbekannten Dämon über den Weg gelaufen. »Für den Tod des Mannes.«
    Shan schaute auf seine Hände. »Ich weiß es nicht. Hat man Ihnen das erzählt?« Vielleicht war das die ganze Zeit der Plan gewesen. Alte Haudegen wie Tan und Minister Qin spielten vor dem Fressen gern mit ihrer Beute.
    »Man hat mir gar nichts erzählt«, sagte Yeshe verbittert.
    »Der Ankläger ist zur Zeit nicht da«, sagte Shan und bemühte sich, möglichst ruhig zu klingen. »Oberst Tan braucht einen Bericht. Ich kenne mich ein wenig damit aus.«
    »Mit Morden?« Yeshes Stimme klang beinahe hoffnungsvoll.
    »Nein. Mit Fallakten.« Shan schob Yeshe die Liste herüber. »Ich habe eben unter der ersten Nummer angerufen. Die Ärztin war nicht erreichbar.«
    Yeshe wandte sich zu Feng um und seufzte, als der Sergeant

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