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Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirill Bulytschow
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drängten sich zusammen, sein rosa Schwanz aber schob sich aus dem Wasser und peitschte ihre Füße. Die rothaarige Ruth, die Tochter von Thomas, jaulte auf — offenbar hatte der Wurm ihre Hand mit einem seiner Saugnäpfe berührt, das aber brannte auf der Haut. Ihre Mutter schaute aus dem
Fenster und rief:
„Habt ihr den Verstand verloren! Einfach so ins Wasser
zu springen, dabei könnt ihr die Hände einbüßen! Marsch
nach Hause!“
Doch die Schüler wollten den Wurm unbedingt
herausziehn, und Oleg wußte auch, warum. Der Wurm
würde dann seine Farbe wechseln, wäre mal rot, mal blau,
und das interessierte sie. Allerdings nur sie, nicht aber die
Mütter, die panische Angst vor den Würmern hatten,
obwohl diese im allgemeinen keinen Schaden anrichteten
und feige waren.
Linda, die Frau von Thomas, stand am Rand der Pfütze
und rief ihre Tochter.
Oleg, der Frage seiner Mutter zuvorkommend, sagte:
„Ich bin gleich wieder da.“
Er trat aus der Tür und schaute zum Ende der Straße, wo
am Zauntor Thomas stand, die Armbrust im Anschlag.
Seine Haltung verriet Anspannung.
Da stimmt was nicht, dachte Oleg, ich hab’s geahnt.
Dick hat sie Gott weiß wohin entführt, und nun ist was
passiert. Dick kommt gar nicht auf die Idee, daß sie ganz
anders ist als er, ein Mädchen noch, das man beschützen
muß.
Die Kinder hatten den Wurm inzwischen aus dem
Wasser gezogen, er war jetzt fast schwarz, konnte sich
nicht damit abfinden, gefangen zu sein. Auch Ruth war
gefangen, sie wurde von ihrer Mutter nach Hause
geschleppt.
Oleg rannte zum Zaun, obwohl ihm einfiel, daß er seine
Armbrust vergessen hatte und somit kaum von Nutzen
wäre.
„Was ist los?“ erkundigte er sich bei Thomas. Der andere erwiderte, ohne sich umzudrehen: „Ich
glaube, die Schakale treiben sich wieder hier rum. Ein
ganzes Rudel.“
„Das von heut nacht?“
„Keine Ahnung. Früher haben sie sich tagsüber nicht
blicken lassen. Wartest du auf Marjana?“
„Sie ist mit Dick in die Pilze.“
„Ich weiß, hab sie ja selbst durchgelassen. Hab keine
Angst, mit ihm passiert ihr nichts. Er ist der geborene
Jäger.“
Oleg nickte. Die Worte klangen kränkend, obwohl
Thomas ihn keineswegs hatte beleidigen wollen. Auf Dick
konnte man einfach mehr bauen. Er war Jäger, Oleg nicht.
Als ob es, die höchste Errungenschaft der Menschheit
wäre, Jäger zu sein!
„Ich versteh dich ja“, Thomas lächelte unvermittelt, ließ
die Armbrust sinken und lehnte sich mit dem Rücken
gegen einen Zaunpfahl, „aber es ist eine Frage der Priorität.
In einer kleinen Gemeinschaft wie der unseren zählen
mathematische Fähigkeiten weniger als die, einen Bären zu
töten. Das ist ungerecht, doch verständlich.“
Das Lächeln von Thomas war höflich, die langen
schmalen Lippen bildeten in den Mundwinkeln einen
Knick, als fänden sie keinen Platz im Gesicht. Das Gesicht
selbst war schwärzlich und voll tiefer Falten, die Augen
aber glänzten noch dunkler. Das Augenweiß dagegen war
gelb. Thomas war leberkrank und davon kahlköpfig
geworden. Auch hatte er eine schwache Lunge, er hustete
viel. Trotzdem war er zäh und kannte den Weg zum Paß
besser als alle andern.
Thomas warf die Armbrust hoch und schoß, ohne zu
zielen einen Pfeil ab. Oleg sah in die Richtung, in die der
Pfeil pfeifend entschwand. Der Schakal schaffte es nicht
mehr, auszuweichen. Er fiel aus den Zweigen, als hätten
sie ihn in der Schwebe gehalten und dann losgelassen. Das
Tier stürzte ins Gras und zuckte noch ein paarmal, bevor es
verendete.
„Ein Meisterschuß“, sage Oleg.
„ Danke. Wir müssen ihn schnell fortschaffen, bevor die
Aasgeier über ihn herfallen.“
„Ich bring ihn her“, erbot sich Oleg.
„Nein“, widersprach Thomas, „er war nicht allein. Lauf
lieber und hol deine Armbrust. Wenn Dick und Marjana
aus dem Wald kommen, müssen sie an dem Rudel vorbei.
Wie viele Tiere hat so ein Rudel?“
„Ich habe heute nacht sechs gezählt“, sagte Oleg. Der Schakal lag da, den schwarzen Rachen weit
geöffnet, das weiße Fell gesträubt wie Nadeln.
Oleg war schon losgelaufen, um die Armbrust zu holen,
als er auf ein Pfeifen von Thomas hin stehen blieb. Es war
das bekannte laute Pfeifen, das man in jedem Winkel der
Siedlung hörte. Es bedeutete: Alle Mann zu Hilfe! Sollte er umkehren? Nein, es war wohl doch besser, erst
die Armbrust zu holen. Es würde nur eine Minute dauern.
„Was gibt’s dort?“ fragte die Mutter. Sie stand in der Tür. Er stieß sie beiseite und griff sich die Armbrust von der
Wand,

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