Der Gedankenleser
zitterte, was Anna aber gar nicht bemerkte, und ich stellte das Glas zurück auf den Tisch.
Gestern - das Gespräch mit Johannes war toll. Ich beneide Kerstin. Wie gerne würde ich mal mit ihm schlafen. Was für schöne behaarte Hände er hat.
»War Johannes gestern eigentlich auch auf eurem Meeting?«, fragte ich.
Anna zögerte kurz.
»Ja, aber als ich kam, ging er gerade, wir haben gar nicht miteinander reden können.«
»Wir müssen ihn und Kerstin mal wieder einladen. Was meinst du?«
»Ach, in der nächsten Zeit noch nicht«, sagte Anna »Kerstin ist doch eher anstrengend.«
Ich hab keine Lust auf dieses Pärchengequatsche. Am liebsten würde ich mit Johannes alleine essen gehen. Wie gut sein verschwitztes Hemd gerochen hat.
»Du hast Recht«, sagte ich, »wir schieben das noch ein bisschen auf. Kerstin ist anstrengend, ja, und Johannes geht mir mit seinem Macho-Gehabe oft auf die Nerven.«
Aber im Gegensatz zu dir ist er zeugungsfähig ... Jetzt bin ich schon fast vierzig. Elke hat ihre Kleine noch mit zweiundvierzig gekriegt. Ich bin so neidisch, wenn ich sie mit dem Kinderwagen seh. Alle meine Freundinnen haben Kinder. Und alle sind zufrieden mit ihrem Leben. Nur ich nicht. Und keiner ahnt es. Niemand weiß von meiner Sehnsucht. Jedem spiel ich was vor. Auch Arne. Alle denken, ich hätte mich abgefunden. Alles Mist. Alles Lüge. Ich werd auch nie Enkelkinder haben. Gleich muss ich Abendessen machen, wie immer sonntags. Dann sitzen wir am Tisch, reden bestimmt über das Solar-Zeug auf dem Dach, gucken, wie immer sonntags, Tatort, trinken Rotwein und um elf liegen wir im Bett.
»Geht es dir gut, Sonnenscheinchen?« (So nannte ich Anna oft.)
»Ja, sehr. Es ist ein schöner Tag heute. Man ahnt schon ein wenig den Herbst, findest du nicht auch?«
Ich nickte, streichelte ihren Hals und lehnte mich an ihre Schulter. Eine perfide Geste .in dieser Situation, das gestehe ich zu. Aber ich war gleichermaßen geschockt und angezogen von all dem, was ich da hörte, und hatte wohl die Hoffnung, durch die größere Nähe zu Anna noch genauer in sie hineinhorchen zu können. Was aber nicht der Fall war. Ich verstand die Stimme so gut beziehungsweise so schlecht wie vorher. Durch meine angewinkelte Kopfhaltung blickte ich zwangsläufig auf Annas Schoß und ihre Hände - und mir fiel auf, dass sie ihre rechte Hand zur Faust geballt hatte und mit (lern Daumen an ihrem Zeigefinger rieb.
Ich hab keine Lust, zu kochen. Ich hab keine Lust auf Tatort. Ich hab keine Lust, um elf ins Bett zu gehen. Und ich hab auch keine Lust, hier zu sitzen und die zufriedene Ehefrau zu spielen. Aber was soll ich machen? Bin ich hysterisch? Wahrscheinlich. Es geht uns fantastisch. Wir führen ein gutes Leben. Andere träumen davon. Keine Geldsorgen, das Haus ist toll, wir sind gesund, ich geh gerne zur Arbeit - und Arne ist ein guter Kerl. Mein Gott, wenn er bei dem Unfall gestorben war. Warum bin ich nicht jede Sekunde dankbar? Er ist wieder fit. Obwohl, ein bisschen komisch ist er seitdem ja schon. Aber das gibt sich bestimmt wieder. Er hätte ein Pflegefall sein können. Vielleicht bin ich ein schlechter Mensch, ein Egoist. Ich schäme mich. Aber ich langweile mich so. Ist jetzt mit vierzig schon alles gelaufen? War's das? Kommt nix Neues mehr? Wahrscheinlich. Alles liegt klar vor mir. Bis zur Rente. Bis zum Tod. Ich hab so Sehnsucht nach heftigem Sex. Wie früher, mit Max. Wenn ich beim Sex mit Arne nicht immer an Max gedacht hätte, war ich nie gekommen ...
Ich sprang von der Hollywoodschaukel auf. Mehr wollte ich Im Moment nicht hören. Mehr konnte ich nicht ertragen. Ich war fassungslos und rang um Haltung.
»Was ist?«, fragte Anna.
»Ach nichts, nur ein Krampf im rechten Bein. Geht schon wieder.«
Ich schlenderte (zumindest sollte es so aussehen) zu unserem Rosenbeet, kniete mich auf die Erde und tat so, als würde ich die Stängel und Blätter auf Läuse kontrollieren. Zupfte auch hier und da etwas Unkraut aus und sammelte die kleinen Pflänzchen in der Kuhle meiner linken Hand.
Das also war unser Leben? . So war es bestellt um unsere Ehe?
Und beim Sex hatte sie an Max gedacht?
Immer?!
Ich glotzte auf die in majestätischer Blüte stehenden Blumen vor mir und musste plötzlich an meinen Lieblingsfilm denken, Der Club der toten Dichter. Wie hieß es dort doch:
Pflückt Rosenknospen, solange es geht,
die Zeit sehr schnell euch enteilt,
dieselbe Blume, die heute noch
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