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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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und auch der Gemeinde. Erst mit Anfang zwanzig schaffte sie den Absprung aus der frommen Welt, was einen langjährigen Bruch mit ihren Eltern zur Folge hatte. »Ich habe keine Tochter mehr«, soll der Vater gesagt haben, »aber ich werde für diese junge Frau beten und Gott bitten, ihr zu vergeben.«
     

    Wie oft hatte Anna mich in unseren vierzehn gemeinsamen Jahren belogen und mir etwas vorgespielt?
    Wann war ihr Verhalten ehrlich gewesen?
    Wann hatte sie die Wahrheit gesagt?
     

    Ihr war das sonntägliche Tatort -Schauen also zuwider? Aber noch beim Mittagessen hatte sie gesagt: »Heute ermittelt Lena Odenthal, das wird bestimmt wieder spannend, ich freu mich richtig drauf.«
    Warum verhielt sie sich so? Hier ging es doch um nichts. Unser Tatort-Ritual war nur eine nette kleine Banalität. Warum belog sie mich? Sie hätte doch einfach sagen können: »Ich habe keine Lust auf Fernsehen, ich mache heute mal was anderes!«
    Sie wusste, wie sehr ich mich immer auf den Sonntagabend freute. Saß sie nur mir zuliebe mit vor dem Fernseher? Und das schon seit so vielen Jahren? Ihre tatsächlichen Gefühle hatte ich niemals, nicht einmal andeutungsweise, bemerkt. War sie eine so gute Schauspielerin gewesen - oder ich ein verheerend schlechter Beobachter? Ich vermochte meiner Gedanken nicht Herr zu werden. Noch immer hockte ich vor unseren Rosen, mir taten schon die Beine weh, bis ich Anna sagen hörte: »Ist etwas mit den Blüten? Wenn ja, vom Anstarren wird's auch nicht besser.«
    Sie lachte dabei ein bisschen, stand von der Hollywoodschaukel auf und kam auf mich zu. Ich aber wollte auf keinen Fall schon wieder in ihrer unmittelbaren Nähe sein, sprang deshalb hoch, machte ein paar Schritte nach hinten und stammelte: »Ach, ich musste gerade nur an meine Arbeit denken. Wie gut, dass ich noch krankgeschrieben bin, ich hätte überhaupt keine Lust, morgen in die Redaktion zu gehen ... Mit den Rosen ist alles okay.«
    Anna schien über mein plötzliches Zurückweichen etwas irritiert zu sein.
    »Ist mit dir auch wirklich alles in Ordnung?«
    »Ja, alles prima! Ich fühle mich pudelwohl.«
    »Dann lass uns vor dem Essen doch noch einen kleinen Spaziergang machen.«
    Kaum hatte sie den Vorschlag ausgesprochen, da stand sie auch schon neben mir, hakte sich unter und zog mich in Richtung Gartentor.
    Jetzt konnte ich mich nicht mehr befreien, und jede Ausrede oder Weigerung hätte sie sicher noch misstrauischer gemacht. Also ergab ich mich in mein Schicksal und verließ Arm in Arm mit Anna unser Grundstück.
    Wir gingen querfeldein über die hinter unserem Haus gelegene große Wiese. Wir schwiegen. Vielleicht hätte ich einfach drauflosplappern sollen, um mich so gegen ihre Gedanken zu wehren; meine gesprochenen Worte hätten dann die Stimme in meinem Inneren übertönt. Aber ich tat es nicht. Zu groß war dann doch die Gier, weiter und vielleicht noch tiefer in ihre geheimen Welten einzudringen.
    Ein leichter Wind kam auf, und die Luft roch nach Erde und Blüten. ES war angenehm warm. Am Himmel standen nur wenige Wolken.
     

    Ich muss nächste Woche unbedingt zum Friseur. Ob ich mir die Haare doch mal färben lassen soll? Arne hat auch schon graue Stellen. Bald hab ich einen alten Mann an meiner Seite. Wie schön, dass wir heute so zusammen spazieren gehen können. Noch vor einer Woche lag er im Krankenhaus. Aber irgendwie ist er anders. Warum hat er vorhin die Rosen so angestarrt? Wenn er nun doch einen Schaden hat? Und wenn es dann noch schlimmer würde ... Könnte ich es bei ihm aushalten? Ich müsste es wohl. Er würde mir ja auch immer zur Seite stehen, egal was passiert. Er ist ein viel besserer Mensch als Max. Was macht Max jetzt wohl? Ich hab ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Ob ich mal versuche, seine Telefonnummer rauszubekommen?
     

    »Was denkst du gerade, Schatz?«, fragte ich hinterlistig.
    »Ach, eigentlich nichts. Soll ich uns nachher einen Gemüseauflauf machen - oder hättest du lieber Hähnchenbrust?«
    »Gemüseauflauf mit Hähnchenbrust!«
     

    Wie witzig. Dann steh ich noch länger in der Küche.
     

    »Ja, so können wir es machen. Und den Rest essen wir dann morgen«, sagte sie.
     

    Reste-Essen. Wenn ich mal einen Roman schreibe, wird er Reste-Essen heißen. Aber ich werde nie einen schreiben. Dazu fehlt mir das Talent. Eigentlich hab ich überhaupt keine Talente. Ich kann nichts besonders gut. Ich bin eine graue Durchschnittsmaus. Hat mein Leben einen Sinn? Wenn ich ein Kind hätte, dann ja.

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