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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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Aber so ... Arne hat viel zu große Füße. Die von Max sind viel schöner. Wie ich sie damals geküsst habe ... Ihm hat's gefallen und mir auch. Bei Arnes Füßen müsste ich kotzen.

    Kotzen?
    Ich löste mich von Anna, machte ein paar schnelle Sätze zur Seite und breitete die Arme aus, tat so, als würde ich tief Luft holen und einen besonderen Spaß an der ausscherenden Bewegung haben.
    So, wie sie dachte, so sprach sie nie. Das war nicht Annas Art; sich auszudrücken. Offenbar aber waren ihre Gedanken vulgärer als ihre gesprochene Sprache. Ich erkannte sie in ihren Gedanken kaum wieder. Alles war befremdlich. Sie ekelte sich vor meinen Füßen? Aber warum? Ich pflegte sie stets, hatte weder Schweißfüße noch Nagelbettentzündungen oder dergleichen.
    Ich ekelte mich vor Annas Füßen nicht.
    Sie kam sich vor wie eine graue Maus? Nie hatte sie Ähnliches mir gegenüber geäußert. Und immer wieder tauchte Max in ihren Gedanken auf. Allein schon dreimal während der letzten Stunde. Dabei hatte sie ihn seit Jahren nicht mehr erwähnt.
     

    Anna war wieder auf mich zugekommen und hakte sich erneut unter. Wir schlenderten wortlos weiter. Jetzt schwieg ihr Gehirn. Ich konnte nichts hören, sah nur vor meinen inneren Augen ein intensives Grün.
    »Ich werde heute mal auf den Tatort verzichten«, sagte ich leise. »Ich habe keine Lust auf Fernsehen, ich werde lesen.«
    Plötzlich strahlendes Blau in mir. Dann, nach wenigen Sekunden, verwandelte sich das Blau in ein tiefes Schwarz.
    »Aber warum? Was ist denn jetzt los? Soll ich etwa alleine gucken? Du bist irgendwie komisch, seit du aus dem Krankenhaus zurück bist. Geht es dir wirklich gut? Verheimlichst du mir was?«
    »Ach, das Thema hatten wir ja nun schon öfter. Nein! Mir geht es super.«
     

    Wenn er auf unsere Rituale jetzt schon keine Lust mehr hat, was bleibt denn dann noch? Ich steh mitten im Leben und vertrockne. Was mache ich heute Abend? Mich alleine vor die Glotze setzen? Was will er denn lesen? Er hat doch seit Monaten kein Buch mehr angerührt War früher anders. Er wird immer träger. Fehlt nur noch, dass er verfettet. Aber - das wäre im Grunde auch egal. Ach Himmel, wie ich über ihn denke! Er ist ein so loyaler Mensch. Er hat mich noch nie schlecht behandelt. Er würde alles für mich tun. Und ich bin sicher, dass er treu ist. Ich würde es ihm sofort ansehen, wenn er mit einer anderen Frau ... Wenn er nachher liest, werde ich mich an den Computer setzen. Mal suchen, wo Max lebt, was er macht, vielleicht kriege ich ja sogar seine Telefonnummer raus.
     

    Wieder ließ ich von Anna ab, bewegte mich ein paar Meter von ihr weg und sagte: »Komm, lass uns nach Hause gehen. Allmählich bekomme ich Hunger.«
    »Ja, ich auch«, erwiderte sie, »und nachher mache ich es mir vor dem Fernseher so richtig gemütlich.«
     

    Eigentlich zerbrach unsere Ehe an genau diesem Sonntagnachmittag. So muss ich es im Nachhinein sagen. Die Gedanken meiner Frau Anna, die ich auf der Hollywoodschaukel und später während unseres Spaziergangs gehört hatte, brachten unser vertrautes Leben zum Einsturz. Was ich allerdings zunächst nicht wahrhaben wollte. Ich verdrängte das neu erworbene Wissen über Annas Innenleben. Vielleicht hatte sie das ein oder andere ja auch gar nicht so gemeint? Vorsichtshalber aber ging ich ihr aus dem Weg, das heißt, ich hielt sie auf Abstand, um mich vor ihren Gedanken zu schützen. Nachts schlief ich sogar in meinem Arbeitszimmer, mit der Begründung, ich müsse neuerdings sehr oft zur Toilette und wolle sie auf keinen Fall stören. Fernhalten wollte ich mich allerdings auch von ihr, weil ich mir schäbig und gemein vorkam. Ohne ihr Wissen belauschte ich ihre Gedanken. Das war ja eigentlich noch viel schlimmer, als heimlich in einem fremden Tagebuch zu lesen.
    Im Übrigen hatte ich zunächst genug damit zu tun, mich mit meiner »Gabe« auseinanderzusetzen.

6

    Der Blitz hatte mich zwar nicht getötet, aber die unvorstellbare Kraft der Elektrizität, die meinem Gehirn so nahe gekommen war, hatte mich zu etwas befähigt, das sowohl Faszinosum als auch Fluch bedeuten sollte: Ich konnte Gedanken lesen.
    Wobei diese Formulierung zwar gängig ist, aber die Sache nicht richtig trifft. Ich konnte die Gedanken anderer Menschen nicht lesen, sondern hören. Und es gelang auch nicht immer. Nur wenn sich ein Mensch in meiner unmittelbaren Nähe aufhielt, das heißt, der Abstand durfte nicht größer als ungefähr einen Meter sein, wusste ich, was in

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