Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
Lange vor der Morgendämmerung entkamen Seriema und ihre Begleiter aus Tiarond. Sie flohen im gestreckten Galopp über die morastigen Felder vor der Stadt und fädelten sich dann zwischen den grässlichen Scheiterhaufen hindurch. Die größeren schwelten noch, die anderen waren von Regen und Schnee gelöscht. Seriema brauchte ihre ganze Selbstbeherrschung, um sich nicht umzudrehen. Sie rechnete fest damit, dass das Grauen, das hinter ihr lag, sie bereits wieder verfolgte.
Es fiel ein feiner, dichter Regen, der die Kleider wie eisige Nadeln durchdrang, aber dass sie nass war, zählte zu den geringsten ihrer Probleme. An einem einzigen schrecklichen Tag waren alle Bollwerke, mit denen sie sich umgeben hatte, ihre Macht, ihr Reichtum und ihre Privilegien, zusammengebrochen. Aus der reichsten Frau Tiaronds war eine Heimatlose, eine Vagabundin geworden, der von nun an alle möglichen Gefahren drohten. Ihre Zukunft war ungewiss, und ihr Leben hing an einem seidenen Faden.
Nur ihr Stolz hielt sie aufrecht. Sie war zornig, ängstlich und jede Faser ihres Körpers schmerzte. Am liebsten hätte sie geweint und geflucht, ja gezetert wie eine alte Vettel. Aber ganz gleich welche Rückschläge ihr das Leben noch zumuten würde, sie war entschlossen, sich allem tapfer entgegenzustellen. Eher würde sie barfuß über Scherben laufen, als vor ihren Begleitern Angst und Schwäche zu zeigen. Allerdings fiel es ihr schwer, den Anschein der Tapferkeit zu wahren.
Die Erinnerungen der vergangenen Stunden schossen ihr immer wieder bruchstückhaft durch den Kopf: die Schläge, der Blutgeschmack, der Geruch des eigenen Angstschweißes, das hassverzerrte Gesicht des Mannes, der über sie hergefallen war, das schwarze Ungeheuer und wie es durch die Fensterscheibe hereinbrach, wie es den bluttriefenden Rachen aufriss und wie unnatürlich schnell es sich bewegte. Und Marutha, die alte Haushälterin, die in ihrem Leben eine so wichtige – und laut vernehmliche – Rolle gespielt hatte, wie sie mit eingeschlagenem Kopf, das graue Haar voller Blut, auf dem Küchenboden lag. Und sie, Seriema, hatte die alte Frau im Streit fortgeschickt, und die letzten Worte, die Marutha von ihrer geliebten Herrin gehört hatte, waren barsch und zornig gewesen. Seriema riss sich zusammen, um nicht zu schluchzen.
Denk nicht daran, befahl sie sich. Wenn sie sich jetzt gehen ließ, wäre sie verloren. Besinne dich auf das Praktische – zum Beispiel auf die Frage, wohin der Händler uns bringen will und was er vorhat, wenn wir dort angelangt sind. Das war schon besser. An der Vergangenheit konnte sie nichts ändern, aber die Zukunft sollte sie, wie ungewiss sie auch sein mochte, beeinflussen können. Sie ritt ein Stück nach vorn, um mit Tormon zu sprechen.
Mein Kind – mein Kind – mein Kind – mein Kind. Die Hufe der Pferde schienen diese Worte auszustoßen. Tormon hielt sein Bündel fest an sich gedrückt, das so klein, so unendlich kostbar war.
Ich habe dich wieder, meine kleine Annas. Ich werde dich beschützen. Solange wir beide nur zusammen sind, zählt nichts anderes auf der Welt. Was kümmert es uns, was mit dieser verfluchten Stadt geschieht?
Anmaßende Worte, doch Tormon schauderte noch, wenn er an das abscheuliche Wesen in Seriemas Villa dachte, und an die unheilige Gemeinschaft, die sich dort am Himmel zusammenscharte. Er hörte noch die Schreie der hilflosen Menschen, die in den Mauern des Heiligen Bezirks wie die Schafe in einem Pferch standen und abgeschlachtet wurden. Tormon drückte Annas fester an seine Brust, bis sie sich zappelnd wehrte.
Warum soll ich mich mit der Sorge um ihr Schicksal belasten? Sie haben meine Lebensgefährtin umgebracht. Kanella. Sie haben den Tod verdient.
Im Grunde aber wusste er, dass das nicht richtig war. Die Menschen in Tiarond waren gewöhnliche Männer, Frauen und Kinder, genau wie seine eigene Familie, die nun entzweigerissen war. Nicht sie hatten Kanella getötet. Zavahl hatte es getan – jedenfalls hatte er den Mord befohlen. Aber inzwischen dürfte der Hierarch seinerseits tot sein. Elion, der geheimnisvolle junge Mann, auf den Tormon in der vergangenen Nacht gestoßen war, hatte zwar dessen Errettung geplant, aus Gründen, die nur ihm selbst bekannt waren, aber Tormon war sich sicher, dass er damit keinen Erfolg gehabt hatte. Nein, Zavahl war inzwischen entweder im Opferfeuer gestorben, um seinen erzürnten Gott zu besänftigen, oder er war von den Ungeheuern getötet worden, die seit der
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