Der geheime Garten
bloß hier geblieben, weil ich zu dem dummen Fest wollte. Wie töricht war ich doch!«
In diesem Augenblick drang aus den Hütten der Dienerschaft ein so lautes, entsetzliches Wehklagen, daß Mrs. Lennox den Arm des jungen Mannes ergriff. Mary stand von Kopf bis Fuß zitternd da. Das Heulen wurde wilder und wilder.
»Was ist das? Was ist das?« keuchte Mrs. Lennox.
»Da ist jemand gestorben«, antwortete der Offizier. »Sie hatten mir nicht gesagt, daß die Seuche auch bei Ihren Dienern ausgebrochen ist.«
»Ich wußte es nicht!« weinte Mem Sahib. »Kommen Sie mit! Kommen Sie mit!« Sie wandte sich um und rannte ins Haus. Danach ereigneten sich schreckliche Dinge. Das Geheimnis dieses Morgens war enthüllt. Die Cholera war in aller Heftigkeit ausgebrochen. Menschen starben wie Fliegen. Ayah war in der Nacht krank geworden. Und weil sie nun gestorben war, hatte sich jenes Wehklagen erhoben. Bis zum nächsten Morgen starben noch drei Dienstboten, andere rannten fort. Panik brach aus, in allen Bungalows lagen Menschen im Sterben.
In der Aufregung und Verwirrung des folgenden Tages versteckte sich Mary im Kinderzimmer und wurde dort einfach vergessen. Keiner dachte an sie, keiner verlangte nach ihr. Um sie herum geschahen Sachen, die sie nicht begriff. Mary verbrachte die Zeit abwechselnd mit Weinen oder mit Schlafen. Einmal schlich sie in das Eßzimmer und fand es menschenleer. Das Essen stand kaum berührt auf dem Tisch. Teller und Stühle sahen aus, als wären sie hastig beiseite geschoben worden. Das Kind aß ein paar Früchte und etwas Gebäck, und da es durstig war, trank es von dem Wein, der in einer noch fast gefüllten Flasche stand. Er war süß. Mary wußte nicht, wie stark er war. Bald darauf machte er sie schrecklich schläfrig. Sie schlich zurück in ihr Kinderzimmer, legte sich auf ihr Bett und schlief ein.
Vielerlei ereignete sich in den Stunden, da sie fest schlief. Sie wurde nicht mehr gestört durch die Wehrufe und den Lärm, der entstand, als irgendwelche Dinge in dem Bungalow hin und her und hinausgetragen wurden. Nachdem sie aufgewacht war, lag sie stumm da und starrte die Wände an. Im Hause war es totenstill. So still war es ihr noch nie vorgekommen.
Wenn Menschen die Cholera hatten, dachten sie wohl nur an sich selbst, überlegte Mary. Aber wenn nun alle wieder auf dem Posten wären, würden sie sich sicher wieder an sie erinnern. Und sie würden kommen, um nach ihr zu sehen.
Niemand kam. Während Mary wartend lag, schien das Haus stiller und immer stiller zu werden. Sie hörte etwas über die Matten auf dem Fußboden rascheln, und als sie hinuntersah, entdeckte sie eine kleine Schlange. Das Tier kroch heran und beobachtete Mary mit Augen, die wie Juwelen glitzerten. Mary fürchtete sich nicht. Sie wußte, daß das Tier harmlos war. Es würde ihr nichts antun. Es schien bemüht zu sein, das Zimmer möglichst schnell zu verlassen. Die Schlange schlüpfte unter die Tür. Mary beobachtete sie.
»Wie seltsam ruhig es hier ist«, sagte sie. »Als wäre außer mir und der Schlange niemand in diesem Bungalow.«
Im selben Augenblick hörte sie Schritte im Hof und wenig später auf der Veranda. Es waren männliche Schritte. Männer betraten den Bungalow und redeten mit leiser Stimme.
»Was für eine Trostlosigkeit«, hörte Mary den einen sagen. »Diese hübsche, hübsche Frau! Ich denke, das Kind wird auch tot sein. Ich hörte wenigstens, daß sie ein Kind gehabt hätte. Ich habe es freilich nie gesehen.« Mary stand mitten im Kinderzimmer, als die Herren ein paar Minuten später die Tür öffneten. Sie sah mürrisch aus, ein häßliches kleines Ding, das die Stirn in Falten legte und sich hungrig und vernachlässigt fühlte. Der erste Herr, der das Zimmer betrat, war ein hochgewachsener Offizier, den Mary schon einmal gesehen hatte, als er mit ihrem Vater sprach. Er sah müde und erregt aus, aber als er sie erblickte, schreckte er überrascht zusammen. »Barney«, rief er, »hier ist ein Kind! Ein Kind allein! In einem solchen Haus! Der Himmel sei uns gnädig, wer ist das?«
»Ich bin Mary Lennox«, sagte das kleine Mädchen und richtete sich kerzengerade auf. Sie fand den Mann unverschämt, weil er ihres Vaters Bungalow »ein solches Haus« genannt hatte. »Ich bin eingeschlafen, als alle die Cholera hatten, und ich bin gerade erst aufgewacht. Warum kommt niemand zu mir?«
»Das ist das Kind, das keiner je gesehen hat«, rief der Mann. Er wandte sich an seinen Begleiter. »Es ist
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