Der geheime Garten
sich durch Marys Benehmen und ihre Gedanken durchaus nicht stören. Sie gehörte zu den Frauen, die Albernheit bei Kindern nicht durchgehen lassen. So jedenfalls hätte sie es selbst ausgedrückt, wenn man sie um ihre Meinung gefragt hätte. Sie hatte nicht nach London reisen wollen, noch dazu gerade jetzt, da die Tochter ihrer Schwester Marie Hochzeit feierte. Aber sie hatte eine angenehme, gutbezahlte Stellung als Haushälterin im Herrenhaus Misselthwaite, und wenn sie diese Stelle behalten wollte, mußte sie die Aufträge, die Mr. Craven ihr gab, unverzüglich ausführen. »Captain Lennox und seine Frau sind an Cholera gestorben«, hatte Mr. Craven in seiner kurzen Art zu ihr gesagt. »Captain Lennox war der Bruder meiner Frau, und ich bin der Vormund seiner Tochter. Das Kind muß hierhergebracht werden. Sie müssen nach London fahren und es abholen.«
So hatte sie ihr Köfferchen gepackt und sich auf die Reise gemacht.
Mary saß in der Ecke des Eisenbahnabteils und sah stumpf und ärgerlich aus. Ihr schwarzes Kleid machte sie noch gelber, \und ihr dünnes Haar guckte unter einem schwarzen Krepphut hervor. Nie in meinem Leben habe ich ein so häßliches Kind gesehen, dachte Mrs. Medlock. Schließlich wurde sie es müde, Mary zu beobachten, und sie fing mit heller, harter Stimme an zu reden.
»Ich glaube, ich sollte dir etwas erzählen über das, was dir bevorsteht. Weißt du irgend etwas von deinem Onkel?«
»Nein«, sagte Mary.
»Hast du deinen Vater und deine Mutter nie von ihm reden hören?«
»Nein«, sagte Mary und runzelte die Stirn, weil sie sich überhaupt nicht erinnern konnte, daß ihr Vater und ihre Mutter über irgend etwas eine besondere Unterhaltung mit ihr geführt hatten.
»Hm«, machte Mrs. Medlock, und sie beobachtete wieder Marys undurchdringliches kleines Gesicht. Eine kurze Zeit saß die Frau schweigend, dann nahm sie die Unterhaltung wieder auf.
»Ich denke, es wäre vielleicht doch ganz gut, dich ein bißchen vorzubereiten. Du kommst in ein merkwürdiges Haus.«
Mary sagte nichts. Sie wirkte so völlig unbeteiligt, daß Mrs. Medlock aus der Fassung geriet und erst tief Atem holen mußte, ehe sie fortfuhr.
»Es ist ein großes Gutshaus, das einen düsteren Eindruck macht. Mr. Craven ist sehr stolz darauf, auf seine besondere Weise — und die ist nicht weniger düster. Das Haus ist sechshundert Jahre alt und steht am Rande des Moores. Es hat ungefähr hundert Zimmer, wenn auch die meisten davon immer verschlossen sind. Es gibt da Bilder und schöne alte Möbel und andere Sachen, die schon jahrhundertelang dort sind. Rund um das Haus ist ein großer Park mit Bäumen, deren Zweige manchmal bis auf den Boden hängen.«
Gegen ihren Willen hatte Mary zugehört. Das klang alles so ganz anders als in Indien. Das Neue zog sie an. Aber sie wollte ihr Interesse nicht zeigen. Das gehörte zu ihren Unarten.
»Nun«, sagte Mrs. Medlock, »was hältst du davon?«
»Nichts«, sagte Mary. »Solche Häuser kenne ich nicht.«
Mrs. Medlock lachte kurz auf.
»He«, sagte sie, »du redest wie eine alte Frau. Ist dir alles gleichgültig?«
»Es spielt keine Rolle, ob es mir gleichgültig ist oder nicht«, sagte Mary.
»Da hast du recht«, sagte Mrs. Medlock. »Es spielt in der Tat keine Rolle. Warum du im Herrenhaus Misselthwaite wohnen sollst, weiß ich nicht. Vermutlich ist es so am einfachsten. Er will deinetwegen keine Mühe haben. Das steht fest. Er kümmert sich nie um irgend jemand.« Sie machte eine Pause, als ob ihr noch im richtigen Augenblick etwas eingefallen wäre.
»Er hat einen krummen Rücken«, sagte sie. »Das hat ihn verdorben. Er ist ein verdrießlicher junger Mann und hatte nichts von dem vielen Geld und dem großen Besitz, bis er dann geheiratet hat.«
Unwillkürlich schaute Mary sie an und vergaß, uninteressiert ausziehen. Sie hatte sich nicht vorgestellt, daß der Bucklige verheiratet sein könnte, und war ein bißchen erstaunt. Mrs. Medlock bemerkte es wohl, und da sie eine redselige Frau war, fuhr sie mit größerem Eifer fort. Schließlich war dies der beste Zeitvertreib.
»Sie war ein süßes, hübsches Ding, und er wäre durch die ganze Welt gereist, um den Grashalm zu finden, nach dem sie verlangte. Niemand hätte geglaubt, daß sie ihn heiraten würde, aber sie tat es. Die Leute sagten, sie hätte ihn wegen seines vielen Geldes geheiratet. Aber so war es nicht, o nein, wirklich nicht! — Als sie starb...«
Mary fuhr unwillkürlich hoch.
»Oh, sie ist
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