Der geheime Tunnel: Erotischer Krimi (Gay Erotic Mystery) (German Edition)
Kriminalliteratur, an der es keinerlei Mangel gab. Ich verschlang jedes neue Werk von Agatha Christie, sobald es erhältlich war, und war geradezu besessen vom Charakter und den Arbeitsweisen ihres Helden Hercule Poirot, des akribischen Belgiers mit seinem Übermaß an »kleinen grauen Zellen«. Ich liebte auch Lord Peter Wimsey, den prächtigen aristokratischen Protagonisten der Romane von Dorothy L. Sayers – und beim Lesen seiner Taten fantasierte ich immer, wie dieser blonde, sportliche Mann sich einen dunkelhaarigen, muskulösen Amerikaner mit medizinischem Fachwissen zum Assistenten nahm. Was wir nicht alles zusammen tun könnten …
Meine Familie schickte mir reißerische Krimimagazine, mit deren Titelbildern wir unsere Wände schmückten. Conan Doyle war nach wie vor mein Idol, und bei der erneuten Lektüre entdeckte ich in seinen Romanen und Erzählungen erotische Zwischentöne, die ihn gewiss abgestoßen hätten, mich aber entzückten. Vince meinte, es würde ihn nicht wundern, wenn ich demnächst zu einem Sherlock-Holmes-Roman masturbierte – ich lachte darüber, aber er hatte die Wahrheit getroffen. Ich hatte häufig so intensiv zwischen den Zeilen gelesen, dass ich mir zwischen die Beine griff, wenn sich Holmes und Watson den Schurken griffen, und meine Ladung verspritzte, wenn die Polizisten mit ihren Pistolen schossen. Für mich war Detektion und Erektion mehr als nur ein schöner Reim.
Meine ärztliche Laufbahn verlief nach Plan – noch ein Jahr, und ich wäre voll qualifiziert –, aber meine Karriere als Detektiv verlief im Sande. Ohne Verbrechen keine Ermittlung, und Edinburgh schien ein Garten Eden bar jeder Kriminalität zu sein. Ich malte mir alle möglichen Schurkereien aus, und Vince warf mir oft mit gutem Grund vor, ich würde absichtlich immer nur das Schlimmste in anderen Menschen sehen, um meine Gier nach dunklen Geheimnissen zu befriedigen. Ich war jedoch immer der Ansicht, dass Wachsamkeit und Vorbereitung der Schlüssel zum Erfolg sind, und deshalb trainierte ich meine Beobachtungsgabe und mein »deduktives Denken«, wie Holmes es nennen würde, so oft ich nur konnte.
Aus diesem Grund betrachtete ich mir nun auch meine Mitreisenden genauer, wie sie vor meinem Abteil hin und her gingen und sich auf die Fahrt vorbereiteten. Da war die übertrieben gekleidete Witwe mit ihrer Zofe vom Typus graue Maus – die beiden sahen aus wie eine gewaltige Galeere mit einem winzigen Beiboot im Schlepptau. Sie wirkten durchaus achtbar, aber wer weiß? Vielleicht war die Witwe ja ein Mann in Frauenkleidern – solchen Wesen war ich nicht nur in der Literatur, sondern auch im wahren Leben schon begegnet –, der vor der Polizei floh oder in London irgendeine Gaunerei begehen wollte. Ihre Zofe sah zwar recht schäbig aus, aber es konnte auch die Tochter einer Adelsfamilie sein, entführt und mit Hilfe von Drogen in eine willenlose Sklavin verwandelt, eine bloße Schachfigur in einem kühnen Erpressungsfall … Sie gingen vorbei, gefolgt von meinem kleinen Gepäckträgerfreund, der unter einer wahnsinnigen Last von Hutschachteln und Koffern beinahe zusammenbrach. Die beiden würden wohl keinen Blick auf seinen Hintern bekommen, dachte ich mir und rieb mich im Schritt. Wie sollte ich Arthur in eine dunkle Ecke kriegen, ehe wir London erreichten? Vielleicht boten die Toiletten der ersten Klasse ja eine Möglichkeit … Dort wäre sicher genug Platz, um ihn nach vorn zu beugen und ihm das zu geben, was er wollte, und außerdem gab es dort den großen Vorteil eines Türriegels …
Wie üblich war ich vom Erproben meines detektivischen Gespürs in eine müßige erotische Fantasie abgedriftet. Ich setzte mich aufrecht hin, nahm die Hände aus dem Schoß und betrachtete mir die nächsten Fahrgäste: eine höchst respektable Familie, an der Spitze ein makellos gekleideter junger und blonder Vater mit grauem Anzug und Hut, gefolgt von einer sanftmütigen und hübschen Mutter in einem allzu verspielten Kleid und drei jungen Mädchen in abnehmender Größe. Der Vater schien wütend, die Mutter war den Tränen nahe. Ein bloßes Missverständnis über die Sitzplatzreservierung vielleicht, ein Streit über eine erzieherische Bagatelle – oder doch eine wesentlich finsterere Angelegenheit? Mit seiner blassen Haut und den blonden Haaren wirkte er wie das Musterbild eines Mannes aus der britischen Mittelschicht – doch konnte er nicht auch ein bolschewistischer Agent sein, gefolgt von einer ebenso verworfenen
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