Der Geheimnistraeger
anders gehandelt«, sagte Vincent. »Ich habe Lydia auch kennengelernt. Aber ich tat nichts. Ich ließ sie untergehen. Das ist mein großer Verrat.«
78. Kapitel
Die Aufräumarbeiten in Korsør waren effektiv gewesen. Das Einzige, was noch an die Besetzung erinnerte, war eine Gedenktafel an der Wand des Hotels Kong Frederik. Der Alltag war wieder eingekehrt, aber in den Häusern und Geschäften war oft zu hören, dass sich die Stimmung in der Stadt verändert habe. Einige meinten, dass man sich mehr umeinander kümmere, dass die Menschen behutsamer miteinander umgingen. Andere fanden, der Fremdenhass habe zugenommen. Niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, was genau geschehen war, das Gefühl war einfach anders. Während einer kürzeren Zeit hatten die Bewohner Korsørs das Ausgeliefertsein der Belagerung und die Ohnmacht der Flüchtlinge erlebt. Äußerlich war Korsør wiederhergestellt, aber innerlich war es verändert.
Casper war ein neunzehnjähriger Junge, der gerade die Schule beendet und einen Aushilfsjob als Gärtner bei der Stadt Korsør bekommen hatte. Er dachte schon nicht mehr an die jüngsten Ereignisse, sondern konzentrierte sich auf seine momentane Tätigkeit. An diesem Morgen hatte er die Aufgabe, die Hecken im Stadtzentrum zu beschneiden. Ausgerüstet mit einer Heckenschere mit Zweitaktmotor legte er los. Er bemühte sich, gerade Linien zustande zu bringen. Meine Hecke soll hübsch werden, dachte er und grinste.
Rasch fielen die grünen Blätter unter den scharfen Klingen. Da entdeckte er ein Blatt, das zwar grün war, aber anders aussah als die anderen. Er stellte die Heckenschere ab und zog das grüne Blatt aus der Hecke. Es stand »100« darauf. Er schob die Zweige auseinander. Im Innern der Hecke lag ein Umschlag. Eine Ecke war beschädigt. Er öffnete den Umschlag und nahm den Inhalt heraus.
Caspar setzte sich hinter die Hecke und begann zu rechnen. Fünfundzwanzigtausend amerikanische Dollar. Achtzehntausendvierhundert dänische und neuntausendsechshundert schwedische Kronen. Ein echter Coup, dachte er. Er steckte das Geld in den Umschlag zurück und verstaute diesen in seinem Overall. Dann drehte er sich zu dem Hotel um, das noch vor wenigen Wochen zerstört und rußgeschwärzt gewesen war. Er fasste mit der Hand nach dem Umschlag und ließ dann den Motor der Heckenschere wieder an. Mit einem Lächeln auf den Lippen beschnitt er weiter die Buchsbaumhecke.
79. Kapitel
An einem Novembertag schaute Vincent Paulsen auf die Wolken hinunter, die sein Land bedeckten. Eine Stewardess servierte ihm ein Brötchen in einer Plastikfolie und Kaffee. Vincent reiste allein. Das Ticket hatte er aus eigener Tasche bezahlt.
Am Vortag hatte er Lydia im Gefängnis besucht. Sie freute sich über sein Kommen. Er versuchte ihr seine Überlegungen über Verantwortung und Schuld zu erklären, aber sie antwortete nur mit einem Lächeln und nahm seine Hand. Er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt verstand, was er meinte.
Beim Verlassen des Gefängnisses hatte sein Schamgefühl etwas nachgelassen. Stattdessen erfüllte ihn eine große Trauer. Er hatte etwas in seinem Leben verloren, etwas, das er nie wiedergewinnen würde.
Die Maschine landete auf dem Flughafen Linate. Er holte seinen Mietwagen ab und fuhr die kleinen Straßen der Poebene unterhalb der Gipfel des Apennins entlang. Nach sechs Stunden traf er in Bologna ein. In der Stadt verfuhr er sich einige Male, stand dann aber schließlich vor der großen Patriziervilla. Die Tür wurde von der Haushälterin geöffnet. Diese drehte sich um und kehrte ins Haus zurück. Wenig später erschien Signora Brambini.
Vincent reichte ihr eine kleine Schachtel. Signora Brambini
öffnete sie. Lange stand sie da und betrachtete ihren Inhalt. Dann umschloss sie ihn langsam mit der Hand. Den Silberring mit den beiden schiefen Türmen und mit Francescas verkürztem Namen.
Die schwedische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Ockupanterna« bei Norstedts Förlag, Stockholm.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2011, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © 2005 by Thomas Kanger
Published by agreement with Salomonsson Agency
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © plainpicture / Folio
Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
NB · Herstellung: SK
eISBN 978-3-641-06583-6
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