Der Geheimnistraeger
Warum konnten nicht unsere Kommandotruppen und Fallschirmjäger dasselbe tun?«
»Die haben ja alle den Arsch nicht hochgekriegt. Sie haben die ganze Zeit nur darüber gestritten, wann der günstigste Augenblick sei. Außerdem wollte unsere Seite verhandeln. So macht man das in Europa. Die Amerikaner wollten aber nicht warten. Vielleicht fand der Ministerpräsident auch, dass sich die Situation so am einfachsten lösen ließ. Eine geheime Aktion, die vorüber ist, bevor überhaupt jemand reagieren kann.«
Vincent schüttelte den Kopf. »Und dann sah er sich nicht imstande, die Hintergründe zu enthüllen«, sagte er. »Dreiunddreißig tote Dänen für das Leben eines Amerikaners. Das ist kein angemessenes Verhältnis, wenn man auf die Wiederwahl hofft. Und dann wollte er mir, einem einfachen Kriminalbeamten, die Schuld in die Schuhe schieben! Wirklich staatsmännisch! Eigentlich zum Weinen.«
Sie blieben eine Weile stehen. Christian schwieg, damit Vincent die Informationen verarbeiten konnte.
»Und Lydia Tamaradze?«, fragte Vincent nach einer Weile.
»War keine amerikanische Agentin«, meinte Christian. »Sie war wohl wirklich nichts anderes als das, was sie selbst angegeben
hat: eine Flüchtlingsfrau aus Georgien. Warum sie zur Waffe gegriffen hat, werden wir vermutlich nie wirklich erfahren. «
»Aber wenn der Ministerpräsident an seiner Lüge festhält, dann wird sie geopfert werden«, sagte Vincent.
»Mal sehen. Die Rechtslage ist gelinde ausgedrückt etwas unklar. «
Sie gingen weiter den Strandvejen entlang. Vor ihnen schob eine junge Frau einen Kinderwagen vor sich her. Der Alltag kehrte in das kleine Land zurück.
»Wir haben diese Reise ja zusammen unternommen«, meinte Christian. »Unsere Zusammenarbeit also … hat doch, könnte man sagen, irgendwie Spaß gemacht, nicht wahr?«
Vincent verzog den Mund. »Durchaus«, erwiderte er. »Das kann man sagen. Aber wir sind noch nicht am Ziel.« Er drehte sich um und sah der Frau mit dem Kinderwagen hinterher. »Der Mord an Paolo Rocca. Ließen deine Verbindungsleute etwas über das Motiv verlauten?«
»Nein«, erwiderte Christian. »Was glaubst du?«
»Dass er abgesprungen ist. Ich glaube, die Mitteilung auf der CD deutet darauf hin. Ich weiß nicht, aber meine Vermutung ist, dass er an der Planung der Besetzung beteiligt war. Dann entdeckte er, dass Kagan eigene Ziele verfolgte, und hatte die Nase voll. Besetzung war eine Sprache, die Paolo Rocca verstand, aber nicht Massenmord. Ich glaube, Kagan befahl den Mord aus Angst, dass Rocca ihn verraten würde.«
»Aber wie ging das zu? Können wir nicht versuchen, den Ablauf der Ereignisse am Mordtag zu rekonstruieren?«
»Ich habe das tatsächlich schon versucht«, sagte Christian. »Man muss dazu seine Logik und Fantasie benutzen. Rocca checkte gegen acht Uhr morgens aus seinem Hotel aus. Dann ließ er seine Tasche bei dem Schuhmacher unter dem Vorwand
zurück, den Schlüssel verloren zu haben. Anschließend nahm er um elf Uhr den Zug nach Kopenhagen. So viel wissen wir.«
»Die Mörder müssen ihn bereits beschattet haben, als er in Malmö in den Zug stieg«, meinte Vincent. »Aber da einer von ihnen später im Hotel anrief und nach Paolos Tasche fragte, können sie ihn nicht den ganzen Morgen beschattet haben. Oder?«
»Das klingt plausibel«, erwiderte Christian. »Also haben sie ihn abgefangen, nachdem er beim Schuster gewesen war.«
»Aber warum hat er die Tasche überhaupt abgegeben?«
»Der Konflikt zwischen Paolo Rocca und Tal Kagan muss schon früher begonnen haben«, sagte Christian. »Rocca beschlich der Verdacht, dass Tal Kagan eigene Pläne hatte. Das geht aus seiner Mitteilung über Kagans Pläne hervor. Er war sich aber offenbar unsicher, worauf sie hinausliefen. Vermutlich begriff das Kagan, er merkte vielleicht, dass die Datei kopiert worden war. Der Mord mit der Bombe erforderte zweifellos einige Vorbereitungen. Aber er war sich vielleicht auch nicht ganz sicher.«
»Was veranlasst dich zu dieser Vermutung?«, fragte Vincent.
»Die Tatsache, dass Paolo Rocca an diesem Morgen nicht direkt nach Kopenhagen gefahren ist. Ich glaube, in den Stunden zwischen acht und elf ist einiges geschehen. Es liegt nahe, dass sich Kagan und Rocca getroffen haben. Dieses Treffen war für beide entscheidend. Rocca war jedoch so schlau gewesen, die CD als eine Art Rückversicherung bei dem Schuster zu deponieren. «
»Er wagte es dann nicht, sie wieder abzuholen, bevor er nach Kopenhagen fuhr«,
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