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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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bis heute nicht verstehe, erlebt habe, und ich glaube, ich darf sie erzählen.
    Seit langer Zeit war ich wieder einmal für ein paar Tage in Paris. Diese Stadt ist mir auf eine eigenartige Weise fremd und vertraut zugleich, fremd, weil ich sie sehr selten besucht habe, vertraut, weil ich sie aus der Literatur, aus den Chansons, aus den Filmen oder aus den Erzählungen anderer Menschen kenne. Namen wie Montmartre, Champs-Élysées, La Bastille, Jardin du Luxembourg oder Île de France haben für mich einen ähnlichen Klang wie derjenige berühmter Berggipfel, von denen man weiß, dass sie irgendwo im Dunst des Alpenpanoramas liegen, aber persönlich bestiegen haben muss man sie nicht.
    Paris ist mir also vertraut, ohne dass ich es wirklich kenne, ich kann dort spazieren gehen und mich auf einem wunderschönen Platz auf eine Bank setzen und denken, hier könnte ich ein ganzes Buch lesen, so wohl ist mir, und dann erst merke ich, dass ich vor der Sorbonne sitze. Paris, das ist vor allem die Überraschung, dass es den Jardin du Luxembourg tatsächlich gibt und dass er nicht eine Erfindung Rilkes ist.
    Die Kathedrale Notre-Dame de Paris – wann habe ich sie das letzte Mal gesehen – habe ich sie überhaupt
schon einmal wirklich gesehen, nicht nur auf Ansichtskarten, und diese skurrilen Vogelmenschen, mit denen ihre Türme und Galerien bestückt sind, war ich schon einmal in ihrer Nähe? Ich kann es ebenso wenig mit Gewissheit sagen, wie ob ich schon einmal auf dem Eiffelturm war oder ob ich Leonardos Mona Lisa im Louvre leibhaftig gegenübergestanden habe.
    Als ich an jenem Augusttag zu den Türmen der Notre-Dame hochschaute und sah, dass auf der Verbindungsgalerie zwischen den Türmen Menschen hin und her gingen, hatte ich jedenfalls große Lust, mich unter diese Menschen zu mischen und den steinernen Fabelwesen dort oben in die Augen zu sehen. Nichtsahnend folgte ich den Schildern, die einen zur Besteigung der Türme wiesen, und erschrak dann über die Länge der Warteschlange, die mir unendlich vorkam. Da ich aber für den folgenden Tag keine Pläne hatte, beschloss ich, am nächsten Morgen rechtzeitig vor der Öffnung der Pforten anzustehen, so wie ich es auch einmal für die Besichtigung des englischen Kronschatzes getan hatte.
    Der Entschluss war gut. Als ich mich zwanzig Minuten vor der Türöffnung anstellte, waren erst ein paar Deutsche da, und fünf Minuten später reihten sich hinter mir die ersten Japaner ein, nachdem sie sich gegenseitig auf den Bistrostühlen des Cafés auf der andern Straßenseite in den steil einfallenden Morgensonnenstrahlen fotografiert hatten.
    Ich war also bei der ersten Gruppe, welche die steilen Treppen zu den Türmen und zum großen Glockengestühl hinaufstieg, und sah mir dann die Vogelmenschen
des Fantasten aus dem vorletzten Jahrhundert an, wie sie auf die Stadt hinunterschauen, als hätten sie sich das alles ausgedacht und als könnten sie den Anblick jederzeit widerrufen.
    Der höchste erreichbare Punkt befindet sich auf dem zweiten Turm, und als ich die enge Wendeltreppe hochstieg, bemerkte ich erstaunt, dass ich offenbar doch nicht bei den Ersten war, denn es kam bereits jemand hinunter.
    Ein Mann war es, eine unangenehm kantige Erscheinung. Er musterte mich, als sei ich ein Straßenräuber und er dazu berufen, das Gelände von ebensolchen zu säubern, und hinter ihm stieg klappernd eine Dame hinunter, von der ich zuerst nur die Füße in den Schuhen mit hohen Absätzen und dann die schönen Beine sah. Ihr Kopf war noch nicht in meinem Blickfeld, als ihr einer Fuß auf einer der ausgetretenen speckigen Steinstufen leicht einknickte und sie mir mit einem leisen Ausruf entgegen stolperte.
    Ich konnte gar nicht anders, als sie auffangen, und spürte einen Moment lang ihren Körper an meinem, und es war eine angenehme Überraschung, auf die sogleich eine noch angenehmere folgte. Nicht nur, dass sie sich dem Druck meiner Arme überließ, sie drückte ihrerseits ihren Körper aufs Heftigste an meinen, klammerte einen Arm um meinen Rücken, hielt mit dem andern meinen Kopf von hinten, sagte leise zu mir »Thank you, dear« und drückte ihre leicht geöffneten Lippen auf meinen Mund, ließ mich für eine Sekunde ihre Zunge spüren, löste sich dann von mir und ging mit dem Ruf »I’m o.k.!« ihrem Begleiter nach, indem sie mir aus ihren blauen Augen einen schelmischen, unglaublich lebensfrohen Blick zuwarf.
Ihr Duft blieb in der Wendeltreppe hängen wie die Sehnsucht nach dem

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