Der Geisterfahrer
die ich aufbewahre, ich weiß eigentlich gar nicht, warum, ein Sammlerherz hab
ich halt, die erste Agenda hab ich mir als Zehnjähriger angeschafft, in die mussten sich alle Menschen, die ich kannte, an ihrem Geburtstag eintragen, und selbstverständlich war auch diejenige von 1987 da. Als ich sie öffnete und den Juni suchte, erschrak ich. Schon wieder hatte ich einen Fehler gemacht, einen, der siebzehn Jahre zurück lag. »18h C.« stand da, mit Bleistift geschrieben.
Und nun erzähle ich Dir das, was ich nur einem Freund erzählen kann, das, weswegen ich drei Tage auf Dich warte, statt mir einen andern Rechtsbeistand zu besorgen.
Ich hatte damals eine Liebesgeschichte mit einer andern Frau, Cécile hieß sie und war Vikarin, heute ist sie Pfarrerin in einer großen Schweizer Stadt, ist verheiratet und hat eine Familie. Wir hatten uns an einem Drittweltwochenende im evangelischen Tagungszentrum Gwatt kennengelernt, und ich weiß nicht mehr, wie es kam, dass ich abends an ihrem Zimmer anklopfte und es nicht mehr verließ, aber das Feuer, das uns beide ergriff, war heftig, und wir trafen uns vielleicht ein knappes Jahr lang, bis wir merkten, dass es so nicht weitergehen konnte, und uns mit Schmerzen, aber in Einverständnis und Freundschaft trennten. Weder ihr damaliger Verlobter noch meine Frau hatten etwas von dieser Affäre erfahren.
Das Datum 16. Juni 87 erhält insofern eine besondere Note, als am 13. Juni unsere Sophie zur Welt kam und Sonja damals noch im Spital war. Dieser mein Treuebruch war von einer Schamlosigkeit, die ich nur damit erklären kann, dass ich von dieser Liebe vollständig überrollt wurde und mich in keiner Weise unter Kontrolle hatte.
Nun starrte ich auf dieses C in meiner alten Agenda,
das für jeden Ermittler in einem solchen Fall eine heiße Spur darstellen musste. Es kam mir auch in den Sinn, dass ich Caviezel sogar einmal gesehen hatte. Er war Synodaler und hatte an einer Synode, bei der ich Zuschauer war, die Aktivitäten des linken Kirchenflügels kritisiert, welchem ich auch angehörte und welcher eine Stellungnahme der Kirche zu politischen Fragen verlangte, etwa zur Apartheid in Südafrika und deren Unterstützung durch die Schweizer Banken oder zur ganzen Umweltproblematik, Waldsterben, Atomenergie usw.
Ich begann mir auszumalen, was es bedeuten würde, wenn ich Cécile um eine Bestätigung bitten müsste, dass sie dieses C war, und dass ich den Abend und die Nacht mit ihr verbracht hatte. Bestimmt wäre das für sie schlimm, aber für mich und Sonja wäre es eine Katastrophe. Und für die Kinder! Stell Dir das vor: Sie erfahren, dass ich, Pfarrer, Vater und Ehemann, die Geburt meiner ersten Tochter dazu ausgenützt habe, mit einer andern Frau zu schlafen … Ich war verwirrt und wusste keinen Rat. Sonja, die ich sonst gerne um ihre Meinung frage, wenn ich irgendwo nicht weiter weiß, konnte ich nicht einbeziehen. Ich überlegte mir, was Grendelmeier davon halten müsste, wenn ich behauptete, ich hätte die Agenda nicht mehr gefunden. Da es um einen Mord ging, könnte er mit einem Hausdurchsuchungsbefehl anrücken, und auch Sonja würde dann nicht verstehen, warum mir ausgerechnet diese Agenda abhanden gekommen sein sollte. Alle Agenden verschwinden lassen? Nachdem ich mich bei Grendelmeier damit gerühmt hatte? Und wie? Sollte ich schnell zur Kehrichtverbrennung fahren? Zu auffällig.
Dass ich die Abmachung überhaupt eingeschrieben hatte, war mir heute kaum verständlich, es musste mit der unbändigen Freude zusammenhängen, die ich darüber empfunden hatte, mich mit einer andern Frau zu treffen, einer Art Triumphgefühl darüber, gegen die Konventionen zu verstoßen. Den Eintrag ausradieren? Ich schaute ihn an, er war mit Bleistift geschrieben, vorsichtig, dünn, und ich hatte so geschrieben, dass ich wenn nötig radieren könnte. Das war die Lösung. Ich nahm mir von meinem Schreibtisch einen Bleistiftgummi und begann sehr sorgfältig, mein Rendez-vous vom 16. Juni 87 wegzuradieren. Als die Tür ging, erschrak ich und fuhr mit dem Gummi so stark über das Papier, dass dieses einen Knick bekam. Es war Sophie, die mich fragte, ob ich ihr bei ihrem Französisch-Aufsatz helfen könne. Ich sagte ihr, dass ich gleich noch zu einem Termin müsse, dass ich aber nach dem Nachtessen Zeit hätte. Als sie das Zimmer murrend verlassen hatte, schaute ich mir die Bescherung an. Es war mir nicht gelungen, die verhängnisvolle Abmachung zur Gänze unsichtbar zu machen, zudem ging nun
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