Der Geisterfahrer
ein Falz über die Seite, der einzige in einer sonst tadellosen Agenda, es war offensichtlich, dass genau in dieser Juniwoche und genau am fraglichen Datum etwas manipuliert worden war.
Ab dann ging alles wie im Traum.
Ich schloss mich in der Toilette ein, nahm alle Seiten aus dem Einband heraus, zerriss sie in kleine Stücke und spülte sie hinunter. Den Einband wagte ich nicht die Röhre hinunter zu schicken, aus Angst vor einer Verstopfung. Dann ging ich aus dem Haus, nahm das Tram, fuhr zum Hauptbahnhof, stieg dort aus, warf den Einband, den ich
in einen Sprüngli-Papiersack gesteckt hatte, in einen Abfallkorb und ging von dort ins Büro der Kantonspolizei.
Dort gab ich zu Protokoll, ich hätte leider die Agenda des Jahres 1987 nicht mehr gefunden, nähme aber an, dass ich den Abend des 16. Juni zu Hause verbracht und die Geburtsanzeigen meiner Tochter adressiert habe, die drei Tage zuvor zur Welt gekommen sei. Da meine Frau noch im Spital gewesen war, konnte ich keine Zeugen nennen.
Als ich soweit war, trat ein Polizist ein und übergab Grendelmeier die Papiertüte mit der Agenda zusammen mit einem Zettel.
»Trifft es zu«, fragte mich Grendelmeier, und nun wurde sein Ausdruck streng und offiziell, »dass Sie diesen Agenda-Einband vor einer halben Stunde in einen Abfallkorb am Hauptbahnhof geworfen haben?«
Ich hatte den Ernst der Lage unterschätzt – man hatte mich also observiert.
Ja, sagte ich, das sei so, und zwar hätte ich private Gründe dafür gehabt, die nichts, aber auch gar nichts mit dem Mord zu tun gehabt hätten.
Und nun sag mir nicht nur, was ich hätte tun sollen und was nicht, das weiß ich selbst, ich glaube, ich habe so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte, sondern sag mir, was ich jetzt tun soll. Soll ich Cécile um eine Bestätigung unserer damaligen Liebesnacht bitten? Aber zählt eine solche Aussage als Alibi, wenn wir nicht von Dritten gesehen wurden? Zählt sie nämlich nicht, will ich auf keinen Fall schlafende Hunde wecken. Und was ist denn an der Geschichte mit dem Nummernschild so verdächtig ?
Brauche ich überhaupt ein Alibi, da ich zu den Ermordeten nicht die geringste persönliche Beziehung hatte? Da könnten sie genau so von allen, die mit Caviezel an jener Synode waren, ein Alibi für den 16. Juni 1987 verlangen. Das Dumme ist natürlich das mit der Agenda, zum Glück wissen sie wenigstens nicht, was ich wegradieren wollte, aber, das habe ich nachher auch der Untersuchungsrichterin klarzumachen versucht, die den Haftbefehl wegen Kollusionsgefahr ausstellte, die Agenda habe ich einzig und allein aus privaten Gründen vernichtet. Wenn man mir das glaubt, ohne dass ich ins Detail gehen muss, bin ich zwar entlastet, was den Mord betrifft, aber ich stehe mit Sonja vor einem Scherbenhaufen, denn sie wird wissen wollen, was das für private Gründe waren. Und die Kinder, kann ich denen wieder in die Augen schauen? Und der Gemeinde? Und meinen Konfirmanden? Wie lang dauert es überhaupt, bis die Polizei ein Communiqué herausgibt, wenn sie jemanden in Untersuchungshaft genommen hat, oder das Gericht, oder wie geht das? Wie lang kann eine solche Sommergrippe dauern? Egal wie lang, am Schluss wird wohl ans Licht kommen: Es gab Gründe, mich im Zusammenhang mit einem Mord zu verhaften, und das genügt, um einen Ruf zu ruinieren, und erst noch einen als Pfarrer, semper aliquid haeret, haben wir doch beim alten Rambass gelernt, erinnerst Du Dich? Und diesen Brief, der niemanden etwas angeht als Dich und mich, kann ich den abschicken, ohne dass er gelesen wird? Oder soll ich auf unser Gespräch warten? Aber hört da nicht auch ein Beamter mit? Lauter Fragen, ich bin ja derart naiv.
Gerne würde ich zu Gott beten, aber ich habe Gott nie als meinen persönlichen Bekannten angesehen, der in mein Schicksal eingreift, sondern als die große ethische Instanz, an der wir unser Tun zu messen haben, und vor dieser Instanz mache ich zur Zeit keine gute Figur.
Ich wäre Dir sehr dankbar, lieber Heiner, wenn Du am Freitag so bald als möglich zu mir kommen könntest, wirklich!
Herzlich grüßt Dich
Walter
P. S. Sollte sich herausstellen, dass der Brief gelesen würde, werde ich ihn nicht absenden, sondern Sonja bitten, Dich herzuschicken.
P. S. 2 Vergiss P. S. 1, da Du ja in diesem Fall den Brief sowieso nicht bekommst – ich glaube, jetzt muss ich Schluss machen.
Die Überraschung
E s ist jetzt lange genug her, dass ich diese Geschichte, die ich
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