Der Gelbe Nebel
„Ist längst nicht
mehr auf dieser Welt, ich aber lebe, und jetzt wird mich niemand mehr
daran hindern können, in diesem Lande nach Herzenslust zu schalten und
zu walten.“
Kastaglio erzählte ihr von den vielen Schriftrollen im Schrank, in denen die
Geschichte des Zauberlandes aufgezeichnet war. Arachna beschloß, die
Chronik dieses weltabgeschiedenen winzigen Landes zu, studieren, bevor
sie Schritte gegen dessen Einwohner unternahm. Es konnte ja sein, daß sich
hier in den vergangenen Jahrhunderten ein anderer mächtiger Zauberer
niedergelassen hatte, vor dem man sich in acht nehmen mußte.
DIE CHRONIK DER ZWERGE
Arachna begann zu lesen. Die Pergamentrollen waren numeriert, und
deshalb konnte man die Reihenordnung leicht herausfinden. Die Hexe
konnte aber schlecht lesen und kam nur langsam vorwärts. Die Geschichte
der alten Zeit überflog Arachna unaufmerksam. Nur die Schilderung des
Chronisten, wie Hurrikap sie eingeschläfert hatte, studierte sie aufmerksam.
Der gute Zauberer, las sie, habe den Zwergen erlaubt, den reglosen Körper
Arachnas in die Höhle zu schaffen und ihn zu pflegen, damit er sich viele
Jahrhunderte erhielt. Als sie die Stelle mit der Beschreibung las, wie
sorgfältig die Zwerge sie vor dem verderblichen Einfluß der Zeit geschützt
hatten, regte sich sogar in ihrem steinharten Herzen etwas, was an
Dankbarkeit erinnerte.
„Man wird die Zwerge belohnen müssen“, sagte sie zu sich. „Ich werde
ihnen gestatten, in meinen Wäldern so viel Wild zu jagen und in meinen
Flüssen so viel Fische zu fangen, wie sie wollen…“
Die Geschichte alter Königs- und Kaiserreiche übersprang Arachna, ohne
sie zu lesen.
„Das Königreich Theoms… Das Kaiserreich Ballanagars… Der mächtige
Eroberer Agranat… Wer kümmert sich noch um diese längst versunkenen
Schatten?“ brummte sie vor sich hin.
Die Chronik begann sie erst dann zu interessieren, als vom Prinzen Bofaro
die Rede war, der vor tausend Jahren im Westlichen Lande gelebt hatte.
Bofaro wollte seinen Vater entthronen, weil dieser seiner Ansicht nach
schon zu lange regierte.*
Die böse Frau wunderte sich nicht über die Undankbarkeit des
Königssohnes. Auch sie, Arachna, hatte seinerzeit ihrer Mutter alles
weggenommen, was sie für den Hexenberuf brauchte.
Nicht genug damit, hatte sie die Untertanen der Mutter, die Zwerge, aus der
großen Welt in das Zauberland entführt und die hilflose Alte ihrem
Schicksal überlassen. Arachna las aufmerksam, wie Bofaro und seine
Anhänger, die zu ewiger Verbannung in das düstere unterirdische Reich
verurteilt worden waren, sich dort einrichteten. Sie förderten Erz, und man
nannte sie deshalb die Unterirdischen Erzgräber.
*Nachzulesen im Märchen „Die sieben unterirdischen Könige”.
Gespannt las die Hexe, wie Bofaro, der erste König des Unterirdischen
Reichs, vor seinem Tode alle seine Söhne - es waren sieben an der Zahl zu Thronfolgern bestimmte, weil er keinen von ihnen kränken wollte. Sie
erfuhr, wie nach seinem Ableben die Söhne der Reihe nach regierten, jeder
einen Monat lang. Als sie schließlich las, welche Verwirrung daraus
entstand, hüpfte sie vor Freude.
,,Sieben Könige! Und jeder mit eigenem Gefolge, eigenen Hofleuten,
eigenem Militär, eigenen Gesetzen, die nur einen Monat lang gültig waren,
und eigenen Steuern, die das Volk entrichten mußte - einfach fabelhaft!“
dachte sie und lachte so laut dabei, daß die Decke der Höhle zu zittern
begann und Steine von ihr herabfielen. Einen Einsturz befürchtend, rannte
Arachna hinaus, und als das Gepolter aufhörte, kletterten Zwerge auf
Leitern zur Decke hinauf und füllten die Risse mit Zement aus.
„O dieser Bofaro, das muß ein Kerl gewesen sein!“ kreischte die Hexe
begeistert. „Ein fröhliches Leben hat er seinen Untertanen beschert, alle
Achtung!“
Die Hexe beruhigte sich erst, als sie weiter las, daß die Menschen nach
mehreren Jahrhunderten voller Entbehrungen in einem Labyrinth, das die
Höhle umgab, zufällig eine Quelle entdeckten, deren Wasser einen jeden,
der davon trank, für lange Zeit einschläferte. Wenn diese Menschen
erwachten, waren sie wie Säuglinge, die nichts vom Leben wußten und
alles neu lernen mußten. Allerdings dauerte die Lehrzeit nur einige Tage.
Bellino, dem weisen Hüter der Zeit, war der Gedanke gekommen, die
Meute der Hofleute, Soldaten und Spione und mit ihnen die Könige und
ihre Familien für die Zeit einzuschläfern, in der sie nicht
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