Der Gentleman
diskreterweise verbot sich das ja wohl. So dachte er jedenfalls.
Es war ein Irrtum. Gar nichts verbot sich vor den Ohren eines Mannes, der nicht nur ein exzellenter, nahezu allwissender Kellner war, sondern auch ein weiser Mensch.
»Auch in meinem Leben«, verriet er plötzlich, »gab es eine Lucia, mein Herr.«
Völlig überrascht stieß Robert nicht mehr hervor als: »Und?«
»Das Glück meiner Ehe blieb gewahrt.«
»Wie hieß denn Ihre Lucia wirklich?«
»Charlotte.«
»Haben Sie sie je wiedergesehen?«
»Nein, nie. Das wäre auch nicht gut gewesen.«
»Meinen Sie?«
»Ich bin völlig sicher«, erklärte Eisner mit fester Stimme und setzte hinzu: »Es wäre auch nicht gut für Sie, mein Herr.«
»Sagen Sie nicht immer ›mein Herr‹. Ich heiße Sorant.«
»Ich weiß, Herr Sorant.«
»Na sehen Sie, es geht ja.«
»Es wäre auch für Ihre Lucia nicht gut, Herr Sorant.«
Robert blickte eine Weile stumm auf die zu ihren Füßen dahineilenden, murmelnden Wellen, die hier so harmlos wirkten – und nicht nur harmlos wirkten, sondern es auch waren – und wenige Meter weiter plötzlich den Tod mit sich führten. Dann sagte er mit einem Seufzer: »Sie mögen recht haben, Herr Eisner.«
Der Kellner blickte ihn von der Seite an.
»Ich weiß, wer Sie sind, Herr Sorant«, meinte er, »und ich bekenne, daß Sie mir ursprünglich nicht besonders sympathisch waren. Aber nun sage ich Ihnen: Schreiben Sie über das Ganze ein Buch.«
»Ein Buch?« zuckte Robert zurück.
»Ja.«
»Darüber?«
»Ja.«
»Das kann ich nicht!«
»Gewinnen Sie Abstand, und Sie werden sehen, daß Sie es können. Dafür sind Sie ja Schriftsteller, der diese Gabe besitzt. Wie sagt man doch? ›Es sich von der Seele schreiben …‹«
Robert Sorant schwieg.
»Sie werden gar nicht anders können«, meinte Eisner zuversichtlich, »wenn der Drang einsetzt. Und es wird Ihnen helfen. Normalen Sterblichen bleibt dies versagt.«
Er griff zu seiner Angelgerte und erhob sich entschlossen, wobei er erklärte: »Und jetzt lasse ich Sie allein, Herr Sorant.«
»Warum denn?« widersprach Robert.
»Sie sind hierhergekommen, um allein zu sein.«
»Wer sagt Ihnen das?«
»Ich sage mir das, und deshalb erfülle ich Ihnen nun Ihren ursprünglichen Wunsch. Auf Wiedersehen, Herr Sorant.«
»Auf Wiedersehen, Herr Eisner. Haben Sie heute abend Dienst?«
»Ja.«
»Würden Sie mir einen Tisch reservieren?«
»Sehr wohl, mein Herr«, erwiderte Martin Eisner, der sich nun wieder als Kellner empfand. »Für wie viele Personen?«
»Für drei; nämlich mich, meinen Freund aus Köln und – meine Frau.«
Martin Eisner zuckte nicht mit der Wimper. Die einzige Regung, die er zeigte, war ein winziges Lächeln. Nach einem nochmaligen »Sehr wohl, mein Herr«, das begleitet wurde von einer Verbeugung, entfernte er sich.
Eine Amsel sang. Bachstelzen wippten auf den Ufersteinen mit den Schwänzen. Hoch oben am Himmel zog ein Bussard seine lautlosen Kreise. Kühle stieg vom Wasser empor. Ein schwacher Wind spielte mit den Knospen und den goldenen Knöpfen des Ginsters. Die Bäume rauschten leise.
Robert Sorant streckte die Arme weit von sich und atmete tief die reine, frische Luft ein. Er blickte auf die Steine, um die herum das Wasser schäumte, sah hinauf zu den Hängen mit den rauschenden Kiefern und Fichten, grüßte noch einmal das Schilf, die Blumen am Strand, nickte den Fischen, die nicht zu sehen waren, zu, stand langsam auf und ging den stillen Waldweg zurück ins Tal.
Sechs Monate später lag in den Fenstern aller Buchhandlungen Robert Sorants neuer Roman:
Der Gentleman
Und irgendwo in der Welt las ein junges, schwarzlockiges Mädchen mit heißen Wangen Zeile für Zeile.
Aber es weinte nicht mehr.
Es lächelte …
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