Der Gesang des Blutes
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Vor dem Tod
1
«Es gibt keine gruseligen Keller! Es gibt überhaupt keine gruseligen oder unheimlichen Räume! Ein Keller ist ein Keller, ist ein Keller! Egal wie dunkel und feucht er ist. Keller! Verstehst du? Alles andere spielt sich in deinem Kopf ab, nirgends sonst», sagte Tom und warf ihr einen zweifelnden Blick zu, der von seinem typischen spöttischen Lächeln begleitet wurde, das immer dann auftauchte, wenn er sich um Längen überlegen fühlte. Dabei hatte sie sich damals in sein Lächeln verliebt. Allerdings in ein anderes. Sie bereute schon, überhaupt etwas gesagt zu haben. Aber was konnte sie schließlich für ihre Gefühle?
Das Haus war eigentlich genau der Traum, dem sie schon so viele Monate hinterherliefen. Ein bisschen weitab vom Schuss, aber man musste halt Abstriche machen. Das hatte schon ihr Makler gesagt. Doch für dieses Haus würde Tom sicher eine Stunde Fahrt zur Arbeit auf sich nehmen, das spürte sie. Was also war ihr Problem? Dieses Kellerloch beunruhigte sie. Es war wie eine schwärende Wunde.
Sie wich Toms Blick aus, richtete ihre Augen noch einmal auf den großen rechtwinkligen Raum und erschauerte erneut. Es war nicht einzig die Dunkelheit, der Geruch oder die feuchten Wände. Wenn jemand sie aufgefordert hätte, in klaren Worten zu beschreiben, was sie an diesem Keller so ängstigte, hätte sie versagt.
Streng genommen war es gar kein richtiger Keller, sondern eines dieser Löcher, wie sie vor hundert Jahren unter die Häuser gegraben wurden. Ein einziger großer Raum mit Wänden aus Bruchstein und einer niedrigen Decke, die Tom zwang, sich zu bücken. Man musste eine gefährlich schmale, steile Betontreppe hinunter, bis man endlich auf dem feuchten, modrigen Lehmboden stand, der bei jedem Tritt nachzugeben schien und einen zu verschlingen drohte.
In der Mitte des Bodens zeigte sich eine deutliche rechteckige Vertiefung, als habe vor Jahren jemand eine Sickergrube angelegt.
Tom irrte sich, oh ja! Es gab sehr wohl gruselige Räume. Dieser hier war einer, und zwar nicht nur in ihren Augen. Kristin wusste selbst, dass sie seit jeher empfänglich für solche Sachen war. Ihre Kindheit war vollgestopft mit abscheulichen Schrankgespenstern und heimtückischen Waldtrollen. Aber das war damals, damals, als ihre Phantasie noch um einiges lebendiger war. Heute brauchte es ein bisschen mehr, um sie einzuschüchtern. Und dieses bisschen Mehr war dieser Keller!
«Was ist, gefällt dir das Haus etwa nicht?»
Kristin sah ihn nicht an. Ihr Blick war an der rechteckigen Vertiefung im Lehmboden hängengeblieben. Er wusste nur zu gut, wie sehr ihr das Haus sonst gefiel, und vor allem das riesige Grundstück, das endlich ihren Traum vom eigenen Pferd zu erfüllen versprach.
«Doch, es gefällt mir sehr, aber …»
«Aber? Was gibt es hier für ein Aber? Kristin, ich bitte dich, genau das haben wir uns immer vorgestellt. Wenn ich den Preis drücken kann, und ich
weiß
, dass ich diesen Armleuchter von Makler um mindestens Zwanzigtausend drücken kann, ist es mehr als ideal für uns. Schatz, denk mal rational.»
Architekten dachten immer rational, das hatte Kristin inzwischen gelernt. Toms Leben war ausgefüllt mit Zahlen, Zahlen kannten keine Trolle und Schrankgespenster. Er würde nie begreifen, was sie empfand. Zahlen kannten keine Gefühle. Andererseits hatten ihr ihre Gefühle bis jetzt auch die Beklemmungen, die der Keller in ihr ausgelöst hatte, nicht erklären können.
Nur schwer konnte sie den Blick von der Vertiefung lösen, um Tom anzuschauen.
Er hatte den Ausdruck des unschuldigen kleinen Jungen aufgesetzt, mit dem er bei ihr alles durchsetzen konnte. Selbst das, fürchtete sie, war seiner rationalen Strategie geschuldet. Aber darüber wollte sie lieber nicht nachdenken.
«Ach Tom, es ist wirklich ein Traum, und wenn dir die Entfernung nichts ausmacht …», sagte sie und ließ die Schultern fallen. «Etwas Besseres werden wir kaum finden.»
Er eilte auf sie zu und nahm sie in die Arme. Kristin meinte, den Boden unter seinen Füßen schmatzen zu hören. Immerhin wog er fünfzig Kilo mehr als sie. Es konnte doch durchaus möglich sein, dass der Kellerraum ihn zu verschlingen trachtete, nicht sie. Für einen winzigen Moment fühlte sie sich in seinen Armen gefangen.
«Ich wusste, dass du vernünftig bist. Wir müssen den Keller ja nicht nutzen, oder? Das Haus ist ja groß genug. Und? Haben wir noch Gerümpel? Nein, oder? Und dann haben wir ja immer noch
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