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Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerit Bertram
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    W arum sie sich an diesem Tage mit der Menge treiben ließ, Cristin würde es später nicht mehr sagen können. Vermutlich hatte Neugierde sie dazu getrieben, der Prozession durch die engen Gassen zwischen den Kaufmannshäusern aus rotem Backstein zu folgen, vorbei an St. Jakobi, am Heiligen-Geist-Hospital und an der Gropengrove, den schmalen Gängen zwischen unzähligen Holzhütten und Buden, in denen die Armen, Bettler und Krüppel der stolzen Hansestadt hausten. Thaddäus Büttenwart, der wohlbeleibte Lübecker Richteherr, dem der linke Unterarm fehlte, ein halbes Dutzend Ratsmitglieder und ein Priester in dunklem Habit führten den Zug an, gefolgt von zahlreichen Männern, Frauen und Kindern. Begleitet von frommen Gesängen, wurde sie durch das Burgtor hinausgeschubst und -geschoben. Unweit des Friedhofes, auf dem die Opfer der großen Pest begraben worden waren, und der brachliegenden Äcker, die sich vor der Stadtmauer erstreckten, entdeckte sie einen Hügel, über dem die Morgennebel noch wie von Licht durchdrungene Schleier hingen – der Köpfelberg. Cristin wusste, was dort von Zeit zu Zeit geschah. Als würde ein unsichtbares Band sie mit all den anderen verbinden, die der Richtstätte zustrebten, ging sie weiter, bis sie schließlich am Fuß des lehmigen Hügels zum Stehen kam und sich in den Kreis aus Leibern einreihte, der die Anhöhe in freudiger Erwartung umgab.
     
    Zwei Männer hielten einen Burschen von vielleicht fünfzehn, sechzehn Lenzen fest umklammert. Kreidebleich und mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die johlende Menge. Gaben die Beine unter ihm nach? Fast schien es so, denn die beiden Männer, die den Burschen festhielten, zogen ihn ein Stück in die Höhe. Der ältere trug einen knöchellangen Mantel aus grobem, dunklem Stoff. Sein Kopf war unter einer Kapuze verborgen, doch Cristin konnte einige lange, dunkle Haarsträhnen ausmachen, die daraus hervorlugten. Der barhäuptige Gehilfe des Mannes mochte ungefähr in ihrem Alter sein. Das hellbraune Haar hing ihm fast bis auf die Schultern. Sein einfacher Leibrock war knielang.
    »Jakob Tieme, du hast dich des schweren Kirchendiebstahls in St. Marien schuldig gemacht«, hörte sie den Richteherrn sagen. »Dafür wurdest du zum Tod durch das Rad verurteilt. Dieses Urteil wird heute am 2. August 1396 des Herrn vollstreckt!«
    Cristin bekreuzigte sich. Das Rad! Sie hatte davon reden hören. Jede Art, einen Menschen hinzurichten, war schrecklich, aber zwischen zwei Wagenrädern zerquetscht zu werden, bis buchstäblich jeder Knochen im Leib gebrochen war … Sie sah sich um. Immer mehr Menschen drängten sich auf dem Köpfelberg, um dem grausigen Schauspiel beizuwohnen, Bettler und Hübschlerinnen ebenso wie Ratsmitglieder und einfache Bürger mit ihren Kindern. Cristin spürte, wie sich die feinen Härchen an ihren Unterarmen aufrichteten. Mit ihren neunzehn Lenzen war sie eine vernünftige, verheiratete Frau und wusste, was recht war und was nicht. Dies hier war grausam ! Sie suchte eine Möglichkeit umzukehren. Doch die Menge schob sich näher heran.
    »Vollstreckt endlich das Urteil!«, rief ein Mann. Gleich einer Welle übertrug sich sein Ruf von einem Zuschauer auf den nächsten, wurde immer lauter und fordernder.
    »Ja, Henker – töte ihn!«
    Ein dicklicher Mann mit teigiger Haut in dunklem Talar trat neben den Delinquenten. »Willst du noch ein letztes Gebet sprechen, Sünder? Willst du Buße tun, ehe du vor deinen Schöpfer trittst?«
    Der Junge wimmerte. »Bitte, habt doch Erbarmen …«, konnte Cristin ihn flüstern hören. Dann – alle sahen es – verfärbte sich seine Bruche, und Urin lief in einem feinen Rinnsal an den dünnen, nackten Beinen hinab. Eine Frau – dem schwarzen Band an ihrer hellen Mütze nach eine Hure – lachte grell, ein paar alte Vetteln fielen ein. Cristin schloss die Augen.
    »Er hat sich eingepisst«, rief ein rotznäsiger Junge neben ihr, aber seine Mutter versetzte ihm einen Klaps in den Nacken. »Still! Er weiß, sein letztes Stündlein hat geschlagen!«
    »Emmerik«, brüllte ein zahnloser Kerl neben Cristin, »fang endlich an!«
    Der Mann mit der Kapuze und sein junger Gehilfe zerrten Jakob Tieme zu den beiden Wagenrädern, die am Rande des Hügels lagen. Sie drückten den Jungen auf eines der Räder und banden ihn mit geübten Handgriffen daran fest. Der größere der beiden Männer bückte sich, griff nach dem zweiten Wagenrad und hob es in die Höhe, damit ein jeder es gut sehen

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