Der Gesang des Satyrn
Haus heraus“, rief vor allem Metaneira immer wieder. Neaira dachte bereits darüber nach, wie sie Idras klammerndem Griff würden entkommen können. Diese Gelegenheit war ein Wink der Götter, den sie sich zunutze machen mussten. Neaira überlegte, ob sie Metaneira in ihre Fluchtpläne einweihen sollte. Doch Metaneira hatte schon einmal abgelehnt zu fliehen, und wer wusste schon, wie sehr Nikarete ihr den Kopf verdreht hatte. Wenn sie erst einmal aus dem Haus heraus wären, würde Neaira schon etwas einfallen, wie sie es anstellte Metaneira zu überzeugen.
Neaira konnte ihre Aufregung kaum verbergen, während sie neben Metaneira und Idras über die Schwelle der roten Tür trat, hinter die sie vor nunmehr einem ganzen Jahresumlauf gestoßen worden war. Es war ein angenehmer Tag im Frühsommer, und die bunten Stoffe der Tuchweber flatterten wie Fahnen im Wind, sodass Neaira sich kaum vorstellen konnte, dass sie ihr einmal wie ein undurchdringliches Labyrinth erschienen waren. Kurz hielt sie den Atem an, als sie über die Schwelle trat, denn sie befürchtete, dass etwas oder jemand sie zurückhalten würde; doch es geschah nichts. Es war so einfach, über diese Schwelle zu treten. Neaira konnte ihr Glück kaum fassen.
Obwohl Idras ihren Stock dabei hatte und wie ein Wachhund darauf achtete, dass keines der Mädchen fortlief, genoss Neaira den Weg zur Agora, der sie hinaus aus der Gasse der Tuchweber und immer hügelaufwärts durch die Straßen Korinths führte. Je weiter sie liefen, desto aufgeregter wurde sie. Auf der Agora wären viele Menschen. Es wäre leicht, Metaneira dort einfach an die Hand zu nehmen und mit ihr fortzulaufen. Idras war dick und würde ihnen in dem Gewimmel nicht so schnell folgen können. Nun bereute Neaira, dass sie der Freundin nicht vorher von ihren Fluchtplänen erzählt hatte. Sie hoffte, dass sie Metaneira nicht lange würde bitten müssen. Doch wer konnte schon widerstehen, an einem solch schönen Tag fortzulaufen?
Wie schon mit ihrer Mutter wurden sie hier und da angestarrt, während sie zu dritt durch die Straßen liefen.
Doch ein Wort von Idras genügte bereits, die Blicke der Männer abzuwehren. Erinnerungen gingen Neaira durch den Kopf, die schnellen Schritte ihrer Mutter, das unbarmherzige Ziehen an ihrem Arm und die Hoffnung auf süße Datteln. Neaira zupfte an ihrem einfachen Chiton und erinnerte sich, dass sie bei ihrer Ankunft in Korinth einen vergleichsweise Schöneren getragen hatte. Doch was machte das schon? Sie fühlte den Sand der Straße zwischen ihren Zehen, der sich in ihre Sandalen setzte, spürte die warme Sonne auf ihr Haar scheinen, und sie vernahm den Lärm der Straße. So frei war sie schon lange nicht mehr gewesen. Metaneira, die den Ausflug ebenfalls genoss, hatte einen Schleier über ihren Kopf gelegt und hielt ihn sich vor das Gesicht, wenn ein vorbeifahrender Karren zu viel Staub aufwirbelte. Ihr Betragen war ganz so, wie es Idras gefiel. Die Freude über den Ausflug trübte sich ein wenig bei Neaira, als Idras an einer breiten Straße zwei gelangweilte Sänftenträger heranwinkte. Ohne große Eile handelten sie den Preis einer Beförderung bis zur Agora aus. „Sie ist eine edle Dame“, ereiferte sich Idras, um den Preis zu drücken.
Die beiden Träger grinsten und zeigten dabei ihre schlechten Zähne. „Ein edles Pferdchen“, sagte einer und machte eine kreisende Bewegung mit dem Becken. Neaira kramte in ihrer Erinnerung, wo sie dies schon einmal gesehen hatte und erinnerte sich an den Akrobaten, der ihre Mutter mit einer solchen Geste bedacht hatte.
Der überdachte Tragstuhl war zwar schäbig, trotzdem bestand Idras nach erfolgreicher Verhandlung darauf, dass Metaneira ihn bestieg. „Deine Haut wird sonst zu dunkel“, murrte sie. Für die gezahlten zwei Obolen erlaubten die Männer, dass Neaira sich zu Metaneiras Füßen kauerte.
Neaira wäre lieber gelaufen, denn wer konnte schon wissen, wann sie das nächste Mal die Gelegenheit bekam, das Haus Nikaretes zu verlassen. Ach nein, ich werde ja gar nicht dahin zurückkehren, fiel ihr wieder ein. Ein Blick auf Idras Stock ließ sie ihren Unwillen hinunterschlucken. Ihre Weigerung war eine Trachtprügel nicht wert.
Auf der Agora bezahlte Idras die Träger und schob ihre beiden Mündel mit wachsamen Augen vor sich her, während sie an diesem und jenem Stand mit den Händlern in keifendem Tonfall um die Preise der Waren feilschte.
„Für diese einfachen Bänder verlangst du zwei Obolen?
Zeus
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