Der Gesang des Satyrn
Jahr ist wegen dir verloren. Möge der Tartaros dich vor deiner Zeit verschlingen!“
„Es tut mir leid, so furchtbar leid“, stammelte Metaneira, während Neaira sich ängstlich an sie klammerte.
Idras schob ihren Weidenstock zurück in den Gürtel.
„Soll die Herrin über eure Strafen entscheiden.“ Sie packte beide Mädchen am Handgelenk und zog sie zurück zur Agora. An einen weiteren Einkauf war nicht mehr zu denken. Die Schwarze schleppte sie auf direktem Weg zurück in die Gasse der Tuchhändler und ließ sie nicht mehr aus den Augen. Neaira wusste, dass ihre Flucht gescheitert war. Idras stieß sie über die Schwelle der roten Tür und verschloss diese sorgfältig und unwiderruflich.
Zurück in ihrer Unterkunft, ließ Metaneira sich müde auf ihr Schlafpolster fallen und zog Neaira an sich. Idras hatte ihnen gedroht sie beide zu verprügeln, wenn sie es wagen sollten ihr Zimmer zu verlassen. Vor allem Metaneira erschrak bei jedem Geräusch, das auf dem Hof zu hören war. Als längere Zeit nichts geschah, beruhigte Metaneira sich. „Neaira, ich bin so dumm. Ich wollte dich beschützen, weil ich dich lieb habe. Doch ich habe sowohl dir als auch mir selbst nur Unglück gebracht.“
Sie umschlang Neaira mit den Armen und drückte sie an sich. „Du musst mir jetzt sehr gut zuhören, meine Kleine. Ich weiß nicht, ob Nikarete uns noch länger zusammenlässt.“
Neaira löste sich aus der Umarmung und starrte ihre Freundin mit vor Schreck geweiteten Augen an. „Aber ...
sie darf uns nicht trennen! Die Mänaden und die Satyrn ...
alle Waldgeister des Dionysos werden über mich herfallen.“
Metaneira hob die Brauen und wollte von Neaira wissen, was sie damit meinte. Schließlich nahm Neaira all ihren Mut zusammen und erzählte der Freundin von ihren Ängsten und den Dingen, die sie herausgefunden hatte. Zu ihrer Überraschung schien Metaneira jedoch nicht verängstigt, sondern begann zu lachen. Als sie erkannte wie entsetzt Neaira über ihr Lachen war, wurde Metaneira ernst und erzählte Neaira die Wahrheit über das Haus, in dem sie lebten. Je mehr Neaira darüber hörte, desto weniger gefiel es ihr. Sie suchte nach der geheimen Tür ihrer Gedankenwelten, um dahinter zu verschwinden, doch Metaneira ermahnte sie zuzuhören. Sie erzählte Neaira von Männern, die Nikaretes Haus besuchten, um mit den Mädchen zu trinken und sich mit ihnen zu vergnügen. „Mit dem Ding, was sie zwischen den Beinen haben“, fügte sie erklärend hinzu.
„So wie die Hunde auf der Straße?“, fragte Neaira, die sich voller unguter Gefühle daran erinnerte, dass auch Satyrn dieses Ding besaßen, ebenso wie Esel und Pferde.
„So ähnlich.“
„Aber was ist dann der Unterschied zwischen ihnen und den Satyrn?“
Metaneira strich ihr über das Haar als müsse sie ernsthaft über die Frage nachdenken. „Sie sind nicht so hässlich, und sie sind keine bösen Geister.“
Neaira überzeugte das alles nicht. Die Geräusche und die Schreie, die sie in den Nächten gehört hatte, erinnerten sehr wohl an böse Geister! Nach vergnüglichen Festen hörte sich das nicht an. Dann dachte sie an die Frau, die sie für ihre Mutter gehalten hatte.
„Sie war eine Porne , eine Straßenhure, die sich für Geld den Männern anbietet.“
„Und warum hat sie die Sandalen meiner Mutter getragen - die mit den Mustern?“ Alles, was Metaneira sagte, erschien Neaira immer weniger überzeugend.
„Das hat sie ja gar nicht, Kleines. Viele von ihnen tragen solche Sandalen, in denen Nägel stecken, die Worte in den Sand zeichnen. Damit fordern sie die Männer auf, ihnen zu folgen.“
„Meine Mutter hat das auch getan?“, schrie Neaira entsetzt auf.
Metaneira erkannte, dass sie vielleicht besser geschwiegen hätte und bedachte Neaira mit einem mitleidigen Blick. Anscheinend hatte sie nicht damit gerechnet, dass Neaira noch nicht einmal das gewusst hatte.
„Tut mir leid, Kleines. Aber du und ich, wir müssen nicht so sein wie diese Frauen oder wie Stratola. Nikarete lässt nur die reichen Männer zu den Mädchen, die sie ihre Töchter nennt.“
Neaira tröstete das wenig. Ihre Kinderwelt war im Begriff zusammenzufallen. Langsam begann sie zu begreifen, dass ihre Mutter sie mit Absicht bei Nikarete gelassen und niemals vorgehabt hatte, sie abzuholen. Diese Erkenntnis schmerzte beinahe mehr als sie zugeben wollte.
Neaira fühlte sich von ihrer Mutter verraten.
„Du musst lernen, den Männern zu gefallen“, hörte sie Metaneira wie
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