Der Gesang von Liebe und Hass
Dominikanerpaters, der den Heiden in der Neuen Welt das Evangelium gepredigt hatte, und es hieß, Montezuma, der letzte König der Azteken, habe selbst dieses Kreuz als Zeichen der Unterwerfung unter den neuen Gott geküßt, den er nur als Quetzalcoatl, als ›grün gefiederte Federschlange‹, verstand, die aus dem östlichen Meer aufstieg, um seinem Volk eine neue Ordnung zu geben. Das Kreuz war aus dunkler Bronze, und die Füße der Christusfigur waren blank wie Gold von den Tausenden von Küssen, mit denen Heiden und Christen, Spanier und Fremde, den Corpus Christi geehrt hatten.
Maria Christinas Zellentür stand offen, und draußen huschte Schwester Verónica vorbei, die jüngste der Novizinnen, gerade erst siebzehn Jahre alt.
»Komm schnell, Teresa, die Schwester Oberin hat einen Bittgottesdienst befohlen, jetzt gleich, denn die Posten der Nacionales haben Feinde am Bach der drei Wege entdeckt, beim Felsen, der aussieht wie ein Haus.«
Den Felsen kannte Maria Christina nur zu gut, denn sie konnte ihn von ihrem vergitterten Fenster aus sehen. Und manchmal träumte sie, dies sei ein Haus, mitten in der Mesa gelegen, und sie sei die Herrin dieses Hauses, und sie sah Pferde und Hunde. Vor allem einen Hund wie Chico.
Tränen verschleierten ihr einen Moment lang den Blick. Der Abschied von Chico, den sie großgezogen hatte, einem edlen Spaniel mit leuchtenden roten und weißen Farben, war ihr schwerer gefallen als der Abschied von ihren Eltern. Denn sie wußte, daß ihre Eltern es waren, die als Buße für den verlorenen Sohn die Tochter opferten.
»Chico …«, flüsterte sie, und es war ihr, als spüre sie seine feuchte Schnauze an ihrer Wange, des Morgens, wenn sie noch im Bett lag und er zu ihr durfte, freilich unter dem ständig wiederholten Protest Leonors, des Mädchens, das Maria Christina betreute.
Sie zog die Tür der Zelle hinter sich zu und folgte Verónica, die der Kirche des Klosters zueilte, durch den Kreuzgang, über eine Treppe, durch einen langen, immer dumpfen und feuchten Flur bis zur Seitentür, die direkt in das Chorschiff führte, wo zu beiden Seiten des Altars die Nonnen knieten.
Sie waren die letzten. Die Schwester Oberin maß sie mit einem kurzen Blick, dann begann sie laut zu beten.
Es war ein Vers aus dem Teil des Gebetbuches der Nonnen, der sich mit der Bedrohung und Gefährdung durch Fremde beschäftigte.
Maria Christina sank zu Boden, spürte wieder diesen harten, kalten Stein unter den Knien und betete mit. Aber ihre Worte waren nur wie ein Echo, das keinen Sinn ergab. Denn mit ihrem Mund war sie zwar in der Kirche, mit ihrem Kopf war sie aber in Córdoba. Und mit ihrem Herzen war sie in Paris, auf dem Boulevard St. Michel, mit ihrem Herzen saß sie, die schweißnassen Hände zwischen die Knie gepreßt, neben Evita und sah mit an, wie ihre Schwester mit Burton Rangers flirtete, dem Journalisten von der NEW YORK TIMES. Aber Burton hatte keine Augen für Evita, er hatte nur Augen für Maria Christina.
Am Abend tanzten sie miteinander, und es bedurfte nicht mehr vieler Worte. Am Tag danach reiste Maria Christina mit ihrer Schwester und ihrer Tante nach Córdoba zurück, einige Tage später sollte Burton kommen, um mit der Mutter und dem Vater zu sprechen, wie es Sitte war. Doch an dem Tag darauf erschoß Juan seinen Rivalen und flüchtete. Wieder nur einen Tag später war Maria Christina schon hinter den Mauern des Klosters Santa Maria de la Sierra.
Die Sonne spiegelte sich in den bunten Scheiben der Kirchenfenster, es ging auf die Vesper zu. Um Punkt sechs Uhr begann die Glocke in der schmiedeeisernen Turmkuppel zu läuten, daß es weithin über das Land schallte.
Doch mitten im Vespergebet erschien der Colonel, der die Männer der Nacionales befehligte, flüsterte der Schwester Oberin etwas zu, und sie erhob sich, sagte laut, »Amen«, machte eine scheuchende Bewegung mit den Händen, als scheuche sie Hühner in ihren Stall zurück. »Alle in ihre Zellen!« befahl die Schwester Oberin. »Nur du, Teresa, bleibst bei mir. Du verstehst es doch gut, mit Messer und Schere umzugehen. Vielleicht bekommst du zu tun.«
Maria Christina wußte zuerst nicht, was die Schwester Oberin meinte, als sie dann aber die Verbandskästen sah, die Soldaten durch den Kreuzgang trugen, begriff sie, was sie zu tun haben würde.
An der Ostseite der Klostermauer hatten die Nacionales einen Granatwerfer in Stellung gebracht, und sie schossen jetzt wieder, schnell, fünf-, sechsmal hintereinander. Man
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