Der Gesang von Liebe und Hass
Christina schloß die Augen. Sie kniete auf dem nackten Steinboden der Zelle, um ihr Nachmittagsgebet zu verrichten, das vor dem gemeinsamen abendlichen Vespergebet kam. Sie faltete ihre Hände. Die Nägel waren kurz und sauber, obwohl sie den ganzen Tag über im Klostergarten arbeitete. Sie reinigte ihre Hände mit Bimsstein, und sie feilte ihre Nägel mit einem harten Stück Holz zurecht, das sie aus einem Ast der Eiche geschnitzelt hatte, die im vergangenen Herbst gefällt werden mußte.
»Vater unser …«, betete sie, aber ihre Gedanken waren nicht bei Gott, wie es sein sollte, sondern sie waren in dem kühlen und doch so wärmenden Haus in Córdoba, wo ihre Mutter Dutzende von Blumensorten in Tonkrügen und Messingbehältern züchtete, so daß jeder, der eintrat, voller Bewunderung vor diesen hängenden Gärten des Patio im Schritt verharrte.
Nachrichten über den Krieg erhielten sie im Kloster nicht. Die Madre Superior, die Schwester Oberin, war eine strenge Frau, und sie ließ nichts durch das schwere Eichentor der Mauer, die das Kloster umgab, was die karmelitischen Novizinnen von den Geboten der heiligen Teresa von Avila abgelenkt hätte, den inbrünstigen Gebeten und den einfachen Arbeiten, die sie um ihrer seelischen Reinigung und ihrer körperlichen Selbsterhaltung willen verrichten mußten.
Aber Gerüchte drangen auch durch Klostermauern, und so erfuhr man, daß Córdoba und Granada sich der Bewegung Francos angeschlossen hatten und damit einer Armee, welche die einen als die wahre nationale Armee, die anderen als meuternde Faschisten bezeichneten. Die Republikaner hingegen wurden als Bestien in Menschengestalt dargestellt, als atheistische Kommunisten, die aus dem katholischen Spanien eine sowjetische Kolchosenkolonie machen wollten.
»Herr, ich bitte Dich, erleuchte mich«, flüsterte Maria Christina.
»Ich habe mich bereit erklärt, den Schleier zu nehmen, um Dir zu dienen und um mit meinem Dienst das wiedergutzumachen, was Juan getan hat. Bitte, erleuchte mich, ob dieser Entschluß richtig war.«
Bei dem Namen ihres Lieblingsbruders traten ihr Tränen in die Augen. Fast drei Jahre war es her, und es war noch so wie gestern, als Juan im Streit um ein Mädchen seinen Rivalen erschossen hatte und geflüchtet war, und niemand wußte, wohin. Mehr als ein dutzendmal waren Polizei und Guardia Civil in ihrem Elternhaus gewesen und draußen, auf der Finca, auf halbem Weg zwischen Granada und Córdoba, aber jedesmal hatte ihr Vater die offenen Hände ausgestreckt und erklärt: Wieso soll ich wissen, wo mein erwachsener Sohn ist?
Es bedurfte nicht erst des Familienrates, um Maria Christina als der ältesten der Töchter, unverheiratet obendrein trotz ihrer achtzehn Jahre, klarzumachen, was ihre Pflicht war – für ihren geflohenen Bruder zu büßen.
»Herr, erleuchte meine Sinne und gib mir Rat. Ich will Frieden finden und finde ihn nicht. Ich will Zufriedenheit finden, wie meine anderen Schwestern hier bei Dir im Kloster Santa Maria de la Sierra. Doch die Zufriedenheit fehlt mir. Ich will mich Dir hingeben, aber ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Bin ich gut im Garten? Bin ich gut in der Küche? Bin ich gut bei den Arbeiten auf dem alten Speicher, wo sich die Ratten eingenistet haben? Bin ich gut im Kellergewölbe, wo der Wein und die Vorräte lagern, die unsere Schwester Oberin für den Fall der Not beschafft hat? Bin ich gut oder bin ich schlecht? Herr, das frage ich Dich!«
Sie blickte zu dem Kreuz auf, das über ihrem Bett hing, einer hölzernen Lagerstatt mit zwei dünnen Decken darauf und einem Holzkeil, der als Kopfkissen diente.
Sie erwartete kaum noch eine Antwort. Sie lauschte in sich hinein, aber sie vernahm nichts.
Sie bekreuzigte sich und erhob sich seufzend. Die Knie schmerzten. Sie war nun erst einundzwanzig Jahre alt, aber manchmal fühlte sie sich wie eine Greisin, für immer eingesperrt in das Gefängnis eines noch jungen und doch schon alternden Körpers. Wozu war sie noch nutze?
Sie bekreuzigte sich schnell wegen ihrer Gedanken. Sie nahm das Gebetbuch von dem schmalen Tisch, auf dem nur ein tönerner Napf stand, daneben lagen ein Löffel und eine Gabel aus Blech. Nichts schmückte die Zelle außer dem Kreuz, und Maria Christina war stolz auf dieses Kreuz. Ihre Mutter, die sehr energisch sein konnte, hatte darauf bestanden, daß sie dieses Kreuz in die Zelle mitnehmen durfte, denn es war das Kreuz Juans de Valquez y Ortega, eines ihrer Vorfahren, eines
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