Der Geschmack von Apfelkernen
zwischen
den Linden im Hof. Ich muss mich beherrschen, nicht an die Scheibe zu klopfen, um
ihn zu bitten, die Hose höher zu ziehen und die Jacke zuzumachen. Aber lange werde
ich wohl nicht durchhalten.
Es friert.
Seit ein paar Tagen bin ich dabei, die oberen Zimmer für
meine Eltern herzurichten. Mein Vater hat beschlossen, aus Süddeutschland
wegzuziehen, weil das Heimweh meiner Mutter überhandgenommen hat. Sie weint viel und
isst wenig. Sie zieht sich zurück.
Sie vergisst.
Manchmal weiß sie nicht, ob sie schon gekocht hat oder
nicht. Manchmal vergisst sie auch, wie man etwas kocht. Vielleicht wird es hier im
Haus für sie einfacher, aber ich glaube nicht daran. Und ich glaube auch nicht, dass
mein Vater daran glaubt.
Mira habe ich immer noch nicht wiedergesehen, obwohl sie
ja nun zur Familie gehört, aber ab und zu rufen wir uns an. Max hat mehr Kontakt.
Sie ist immer noch Partnerin in der Kanzlei und lebt seit elf Jahren mit einer
Lehrerin in einer Berliner Altbauwohnung. Wenn ich mit ihr telefoniere, sprechen wir
beide nicht von Rosmarie. So sehr sprechen wir nicht von ihr, dass wir ihren Atem in
der Leitung hören können. Und das Rauschen des Nachtwinds in den Zweigen der Weide.
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Danksagung
Ich möchte mich bei Birgit Schmitz und Katja Weller
bedanken. Von ganzem Herzen danke ich auch Anke Hagena und Otfried Hagena, Gerd
Hagena, Erika Thies und Christiane Thies. Mein Dank und meine Liebe gehen an
Christof Siemes, Johann und Mathilda.
Das Buch
Als Bertha stirbt, erbt Iris das Haus. Nach vielen Jahren
steht Iris wieder im alten Haus der Großmutter, wo sie als Kind in den Sommerferien
mit ihrer Kusine Verkleiden spielte. Sie streift durch die Zimmer und den Garten,
eine aus der Zeit gefallene Welt, in der rote Johannisbeeren über Nacht weiß und als
konservierte Tränen eingekocht werden, in der ein Baum gleich zwei Mal blüht, Dörfer
verschwinden und Frauen aus ihren Fingern Funken schütteln.
Doch der Garten ist inzwischen verwildert. Nachdem Bertha
vom Apfelbaum gefallen war, wurde sie erst zerstreut, dann vergesslich, und
schließlich erkannte sie nichts mehr wieder, nicht einmal ihre drei Töchter.
Iris bleibt eine Woche allein im Haus. Sie weiß nicht, ob
sie es überhaupt behalten will. Sie schwimmt in einem schwarzen See, bekommt Besuch,
küsst den Bruder einer früheren Freundin und streicht eine Wand an.
Während sie von Zimmer zu Zimmer läuft, tastet sie sich
durch ihre eigenen Erinnerungen und ihr eigenes Vergessen: Was tat ihr Großvater
wirklich, bevor er in den Krieg ging? Welche Männer liebten Berthas Töchter? Wer aß
seinen Apfel mitsamt den Kernen? Schließlich gelangt Iris zu jener Nacht, in der
ihre Kusine Rosmarie den Unfall hatte: Was machte Rosmarie auf dem Dach des
Wintergartens? Und was wollte sie Iris noch sagen? Iris ahnt, dass es verschiedene
Spielarten des Vergessens gibt. Und das Erinnern ist nur eine davon.
Die Autorin
Katharina Hagena, geboren 1967 in Karlsruhe, studierte
Anglistik und Germanistik in Marburg, London und Freiburg, forschte an der
James-Joyce-Stiftung in Zürich und lehrte am Trinity College in Dublin sowie an der
Universität Hamburg.
2006 erschien ihr Buch »Was die wilden Wellen sagen. Der
Seeweg durch den Ulysses« (marebuchverlag). Zusammen mit Stefanie Clemen
veröffentlichte sie das Kinderbuch »Grausie schaut unter den Stein«. Sie lebt als
freie Autorin in Hamburg.
1. Auflage 2009
© 2008, 2009 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
eBook © 2010 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in
irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne
schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung
elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eBook-Produktion: www.meta-systems.de
ISBN 978-3-462-04149-1 (Buch)
ISBN 978-3-462-30220-2 (eBook)
www.kiwi-verlag.de
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