Ostwind (German Edition)
1. Kapitel
Ohne Halt ging es über eine Sommerwiese Richtung Horizont. Die Landschaft rauschte in atemberaubendem Tempo vorbei. Ein grasendes Reh erschrak, ein Hase sprang fort. Ein Flusslauf kreuzte ihren Weg. Mit einem Satz ging es über ihn hinweg, über ihr nur das grenzenlose Blau des Himmels. Es war ein unbekanntes Gefühl maßlosen Glücks …
… Mika öffnete die Augen. Das Blau war verschwunden. Statt in endlose Weite, blickte sie nur in die müden Gesichter derer, die mit ihr die überfüllte U-Bahn teilten. Eine graue Betonwand ratterte an ihr vorbei. Nichts als öde Realität. Seufzend zog sich Mika ihre Mütze tiefer in die Stirn. Vielleicht konnte sie den schönen Traum noch einmal zurückholen? Schnell schloss sie die Augen.
»Hey! Aufwachen!«, hörte sie da die Stimme ihrer besten Freundin. »Ab morgen kannst du traumen. Dann sind Sommerferien!«
Im nächsten Moment quetschte sich Fanny auch schon neben Mika auf den engen Sitz. Fanny war Mikas engste Vertraute, liebenswert und immer voller Tatendrang. Ohne sie wäre Mikas Leben wohl ziemlich langweilig. Für die Sommerferien hatten sie eine gemeinsame Reise in ein Feriencamp geplant.
»Genau. Freiheit, wir kommen!«, sagte Mika. Ihre Stimme klang dabei aber alles andere als überzeugt. Denn vor den Sommerferien lag noch die Zeugnisvergabe. Mika gehörte nicht zu den fleißigsten Schülerinnen. Ganz im Gegenteil. Sie war stinkend faul. Ihre Versetzung hing am seidenen Faden.
»Hey, keine Sorge«, sagte Fanny und legte Mika den Arm um die Schulter. Sie wusste, was ihre Freundin dachte. »Du stehst genau auf der Kippe … ich hab’s nachgerechnet!«
Mika nickte.
»Und er hat gesagt, dass es gut aussieht«, fügte Fanny hinzu.
Auch Mika hatte die Noten überschlagen. Ja, eigentlich sah es sogar ganz gut aus. Sie lachelte. »Stimmt«, gab sie zu und wischte ihre Sorgen beiseite. Es würde schon alles gut gehen.
In diesem Moment entdeckte Fanny ein paar feuerrote Strähnen, die unter Mikas Mütze hervorlugten. Fanny guckte erschrocken und zog mit einem schnellen Griff ihrer Freundin die Mütze vom Kopf. Mikas ehemals schönes goldblondes Haar leuchtete in einem feurigen Rot! Fanny starrte mit aufgerissenen Augen auf die Haare: »Was ist das denn?!?«
Mika hatte mit einer solchen Reaktion schon gerechnet. Aber es war ihr egal. Ihr gefiel die Farbe. Die U-Bahn hielt und Mika schnappte sich ihre Mütze. »Typveränderung«, sagte sie ohne weiteren Kommentar und sprang aus der U-Bahn.
»Typ Pavianarsch?«, rief Fanny Mika hinterher. Dann schulterte sie kopfschüttelnd ihre Tasche, um Mika zu folgen.
Aber Mika hatte sich bereits durch die Menschenmassen geschlängelt, denn sie hatte es eilig. So schnell wie möglich wollte sie raus aus dem Bahnhof, hinauf an die frische Luft. Endlich wieder unter freiem Himmel! Sie klappte ihr Kickboard aus und rollerte los. Fanny stürzte ihr schwer beladen hinterher.
Mika hatte das Schulgebäude fast erreicht, als plötzlich direkt neben ihr die Bremsen eines Autos quietschten. Mit bleichem Gesicht sah sie sich unvermittelt der Kühlerhaube eines blitzblank geputzten Ford Mustangs gefährlich nahe. Das Cabriolet gehörte Herrn Lessing, ihrem Klassenlehrer, der gerade auf den Lehrerparkplatz hatte einbiegen wollen. Er hatte dafür einige Lehrergehälter hinblättern müssen.
»Mika! Pass doch auf!«, schimpfte er.
Mika kam nun wieder voll zu sich. »Wie bitte?«, platzte es aus ihr heraus. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie hätte tot sein können! Und dieser Schnösel machte sich Sorgen um sein dämliches Angeber-Auto? Mika stemmte die Arme in die Hüften und wollte gerade zu einer empörten Rede ansetzen, als Fanny angeschnauft kam. Schützend schob sie sich vor Mika und deutete Herrn Lessing gegenüber eine beschwichtigende Vorfahrtsgeste an. »Bitte nach Ihnen!«
Herr Lessing lachelte knapp und stieg aufs Gas, während Fanny Mika einen strafenden Blick zuwarf. Mika verstand: Jetzt bloß keinen Ärger einhandeln! Und damit hatte Fanny sicherlich recht.
Als Herr Lessing in der letzten Stunde in der Klasse herumging und die Zeugnisse verteilte, zog sich die Zeit für Mika unerträglich in die Länge. Herr Lessing hatte allerdings keine Eile. Er machte bei der Zeugnisvergabe bei jedem Schüler aufmunternde oder kritische Bemerkungen und trat erst ganz zuletzt an Fannys und Mikas Tisch.
»Eine schöne Leistung. Weiter so«, lobte er Fanny und reichte ihr das Zeugnis. Dann wandte er sich Mika zu, die ihn
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