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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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    I. Kapitel
    Tante Anna starb mit sechzehn an einer Lungenentzündung,
     die aufgrund ihres gebrochenen Herzens und des noch nicht entdeckten Penizillins
     nicht heilen konnte. Ihr Tod trat an einem Spätnachmittag im Juli ein. Und als Annas
     jüngere Schwester Bertha daraufhin weinend in den Garten rannte, sah sie, dass mit
     Annas letztem rasselnden Atemzug alle roten Johannisbeeren weiß geworden waren. Es
     war ein großer Garten, die vielen alten Johannisbeerbüsche krümmten sich unter den
     schweren Früchten. Längst hätten sie gepflückt werden müssen, aber als Anna krank
     wurde, dachte keiner mehr an die Beeren. Meine Großmutter hat mir oft davon erzählt,
     denn sie war es damals gewesen, die die trauernden Johannisbeeren entdeckt hatte.
     Seitdem gab es nur noch schwarze und weiße Johannisbeeren im Garten meiner
     Großmutter, und jeder weitere Versuch, einen roten Busch zu pflanzen, schlug fehl,
     es wuchsen nur weiße Beeren an seinen Zweigen. Doch niemand störte sich daran, die
     weißen schmeckten beinahe ebenso süß wie die roten, beim Entsaften ruinierten sie
     einem nicht die ganze Schürze, und der fertige Gelee schimmerte in
     geheimnisvoll-fahler Durchsichtigkeit. »Konservierte Tränen« nannte ihn meine
     Großmutter. Und noch immer standen auf den Kellerregalen Gläser aller Größen mit
     Johannisbeergelee von 1981, einem besonders tränenreichen Sommer, Rosmaries letztem.
     Einmal fand meine Mutter auf der Suche nach eingelegten Gurken ein Glas von 1945 mit
     den ersten Nachkriegstränen. Das schenkte sie dem Mühlenverein,und
     als ich sie fragte, warum in aller Welt sie Omas wunderbaren Gelee an ein
     Heimatmuseum gebe, sagte sie, dass diese Tränen zu bitter seien.

    Meine Großmutter Bertha Lünschen, geborene Deelwater,
     starb etliche Jahrzehnte nach Tante Anna, doch da wusste sie längst nicht mehr, wer
     ihre Schwester gewesen war, wie sie selbst hieß oder ob es Winter oder Sommer war.
     Sie hatte vergessen, was man mit einem Schuh, einem Wollfaden oder einem Löffel
     anfangen konnte. Im Laufe von zehn Jahren streifte sie ihre Erinnerungen mit
     derselben fahrigen Leichtigkeit ab, mit der sie sich die kurzen weißen Locken aus
     dem Nacken strich oder unsichtbare Krümel auf dem Tisch zusammenfegte. An das
     Geräusch der harten, trockenen Haut ihrer Hand auf dem hölzernen Küchentisch konnte
     ich mich deutlicher erinnern als an ihre Gesichtszüge. Auch daran, dass sich die
     beringten Finger immer fest um die unsichtbaren Krümel schlossen, als versuchten
     sie, die vorbeiziehenden Schattenbilder ihres Geistes zu fassen, aber vielleicht
     wollte Bertha auch nur nicht den Boden vollbröseln oder die Spatzen damit füttern,
     die im Frühsommer so gern im Garten Sandbäder nahmen und dabei immer die Radieschen
     ausgruben. Der Tisch im Pflegeheim war dann aus Kunststoff, und ihre Hand
     verstummte. Bevor ihr das Gedächtnis ganz verlorenging, bedachte uns Bertha in ihrem
     Testament. Meine Mutter Christa erbte das Land, Tante Inga die Wertpapiere, Tante
     Harriet das Geld. Ich, die letzte Nachkommin, erbte das Haus. Schmuck und Möbel, das
     Leinen und das Silber sollten zwischen meiner Mutter und meinen Tanten aufgeteilt
     werden. Klar wie Regenwasser war Berthas Testament – und ebenso ernüchternd. Die
     Wertpapiere waren nicht sehr wertvoll, auf dem Weideland dernorddeutschen Tiefebene wollte außer Kühen niemand leben, Geld war nicht viel da,
     und das Haus war alt.

    Bertha musste sich daran erinnert haben, wie sehr ich das
     Haus früher liebte. Von ihrem Letzten Willen erfuhren wir aber erst nach der
     Beerdigung. Ich reiste allein, es war eine weite, umständliche Fahrt in
     verschiedenen Zügen: Ich kam von Freiburg und musste längs durch das ganze Land, bis
     ich schließlich oben in dem Dorf Bootshaven an der Haltestelle gegenüber dem Haus
     meiner Großmutter aus einem fast leeren Linienbus ausstieg, der mich von einem
     geisterhaften Kleinstadtbahnhof aus durch die Ortschaften geschaukelt hatte. Ich war
     zermürbt von der Reise, der Trauer und den Schuldgefühlen, die man immer hatte, wenn
     jemand gestorben war, den man liebte, aber nicht gut kannte.

    Auch Tante Harriet war gekommen. Nur hieß sie inzwischen
     nicht mehr Harriet, sondern Mohani. Sie trug jedoch weder orange Gewänder noch eine
     Glatze. Einzig die Holzperlenkette mit dem Bild des Gurus wies auf ihren neuen,
     erleuchteten Zustand hin. Mit ihren kurzen hennaroten Haaren und

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