Der Gesellschaftsvertrag
nimmt auch die an, die ihn strafen, falls er es wagen sollte, eines derselben zu übertreten. Der beständig in Kraft bleibende Wille aller Staatsglieder ist der allgemeine Wille; durch ihn sind sie erst Staatsbürger und frei. [Fußnote: In Genua liest man über den Gefängnistüren und auf den Ketten der Galeerensklaven das Wort Libertas, jedenfalls eine schöne und richtige Anwendung des Wahlspruchs dieser Republik. In Wahrheit sind es in allen Staaten nur die Übeltäter, die den Bürger hindern, frei zu sein. In einem Lande, wo dergleichen Leute sämtlich auf den Galeeren wären, würde man der vollkommensten Freiheit genießen.] Bei einem Gesetzesvorschlage in der Volksversammlung fragt man sie nicht eigentlich, ob sie dem Vorschlag zustimmen oder ihn verwerfen, sondern ob er dem allgemeinen Willen entspricht oder nicht, der ihr eigener Wille ist, und aus der Stimmenzahl ergibt sich die Bekundung des allgemeinen Willens. Wenn mithin meine Ansicht der entgegengesetzten unterliegt, so beweist dies nichts anderes als daß ich mich geirrt hatte, und dasjenige, was ich für den allgemeinen Willen hielt, es nicht war. Hätte meine Einzelstimme die Oberhand gewonnen, so hätte ich etwas ganz anderes getan als ich gewollt; gerade dann wäre ich nicht frei gewesen.
Dies setzt freilich voraus, daß die Stimmenmehrheit noch alle Kennzeichen des allgemeinen Willens an sich trägt. Sind diese im Schwinden begriffen, so gibt es keine Freiheit mehr, welche Partei man auch ergreife.
Als ich oben den Nachweis führte, wie man in den öffentlichen Beratschlagungen den Willen einzelner an die Stelle des allgemeinen Willens setzen könnte, habe ich auch ausführlich die wirksamsten Mittel angegeben, diesem Mißbrauche vorzubeugen; ich werde später noch mehr darüber sagen. In gleicher Weise habe ich auf die Grundsätze hingewiesen, nach denen die verhältnismäßige Stimmenzahl festzusetzen ist, aus der sich der allgemeine Wille ergibt. Der Unterschied einer einzigen Stimme vernichtet die Gleichheit, ein einziger Gegner die Einmütigkeit, aber zwischen Einmütigkeit und Gleichheit gibt es mehrere ungleiche Teile, deren Anzahl jedesmal von der Lage und den Bedürfnissen des politischen Körpers abhängt.
Zwei allgemeine Grundsätze können zur Regelung dieser Verhältnisse dienen. Der erste lautet: je wichtiger und ernster die Beschlüsse sind, um so mehr muß der gültige Beschluß sich der Einstimmigkeit nähern; und der zweite: je größere Beschleunigung die zur Beratung gelangte Angelegenheit erfordert, um so mehr muß man das bei Meinungsverschiedenheit vorgeschriebene Mehrheitsverhältnis einschränken; bei augenblicklich zu treffenden Entscheidungen muß schon die Mehrheit einer einzigen Stimme genügen. Der erste Grundsatz entspricht offenbar mehr den Gesetzen, der zweite dient mehr der Geschäftsführung. Wie dem aber auch sei: sicherlich setzt man am besten aus der Verbindung beider das Maß der Stimmenmehrheit fest.
3. Kapitel
Von den Wahlen
Die Wahlen der Regierung und der Behörden, die, wie bereits gesagt, zusammengesetzte Akte sind, lassen eine doppelte Verfahrungsweise zu: die Wahl und das Los. Beide haben in verschiedenen Republiken Anwendung gefunden, und noch gegenwärtig sieht man ein sehr verworrenes Gemisch von beiden bei der Wahl des Dogen von Venedig.
»Die Entscheidung durch das Los«, sagt Montesquieu, »entspricht dem Wesen der Demokratie.« Ich will es gern zugeben, aber weshalb? »Das Losen«, fährt er fort, »ist eine Art zu wählen, die niemanden verletzt; es läßt jedem Staatsbürger eine vernünftige Hoffnung, seinem Vaterlande zu dienen.« Das sind aber keine Gründe.
Wenn man berücksichtigt, daß die Wahl der Behörden Aufgabe der Regierung und nicht des Staatsoberhauptes ist, so begreift man, weshalb die Entscheidung durch das Los mehr in dem Wesen der Demokratie liegt, deren Verwaltung um so besser ist, je einfachere Verrichtungen sie nötig hat.
In jeder wahren Demokratie ist ein Amt kein Vorteil, sondern eine drückende Last, mit der billigerweise der eine nicht mehr als der andere beschwert werden darf. Das Gesetz allein darf sie dem auferlegen, auf den das Los fällt. Denn da sich hierbei alle in gleicher Lage befinden und die Wahl von keinem menschlichen Willen abhängt, so kann auch keine besondere Beeinflussung stattfinden, worunter die Allgemeinheit des Gesetzes leiden würde.
In der Aristokratie wählt der Fürst den Fürsten, die Regierung erhält sich durch sich selbst,
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