Der Gesellschaftsvertrag
und hier ist deshalb die Abstimmung ganz am Platze.
Das Beispiel der Wahl des Dogen von Venedig spricht nicht gegen diesen Unterschied, sondern bestätigt ihn vielmehr; diese verwickelte Form ist einer gemischten Regierung ganz angemessen. Denn man täuscht sich, wenn man die Regierung von Venedig für eine wirkliche Aristokratie hält. Wenn das Volk dort keinen Anteil an der Regierung hat, so ist dafür der Adel selbst das Volk. Viele arme Edelleute erlangen nie ein obrigkeitliches Amt und haben von ihrem Adel nichts als den leeren Titel Exzellenz sowie das Recht, dem Großen Rate beizuwohnen. Da dieser Große Rat ebenso zahlreich ist wie unser allgemeiner Rat zu Genf, so haben seine erlauchten Mitglieder nicht mehr Vorrechte als unsere einfachen Bürger. Abgesehen von der außerordentlich großen Ungleichheit beider Republiken, ist doch unzweifelhaft die Genfer Bürgerschaft (bourgeoisie) ein treues Abbild des Venetianischen Patriziates, unsere eingeborenen Stadtbewohner entsprechen den Bürgern und dem Volk von Venedig, unsere Bauern den dortigen Untertanen auf dem Festlande; kurz, wie man jene Republik auch betrachten möge, so ist, von ihrer Größe abgesehen, ihre Regierung nicht aristokratischer als unsere Genfer. Der ganze Unterschied besteht darin, daß wir die Wahl durch das Los nicht nötig haben, weil wir kein Oberhaupt auf Lebenszeit haben.
In einer wahren Demokratie würde die Erwählung durch das Los wenig Schwierigkeiten bieten. Da in ihr sowohl in bezug auf Sitten und Talente als auch auf Grundsätze und Vermögensverhältnisse die vollkommenste Gleichheit herrschte, so würde der Ausfall der Wahl ziemlich gleichgültig sein. Aber wie bereits gesagt, hatte es noch nie eine wahre Demokratie gegeben.
Wenn Wahl und Los gemischt angewandt werden, so muß erstere für solche Stellen vorbehalten bleiben, die besondere Gaben verlangen, wie für militärische Dienstleistungen; die Entscheidung durch das Los eignet sich dagegen bei denjenigen Stellen, für die gesunde Vernunft, Gerechtigkeitssinn und Unbescholtenheit hinreichen, wie bei richterlichen Ämtern, weil diese Eigenschaften in einem Staate mit guter Verfassung Gemeingut aller Bürger sind.
Unter einer monarchischen Regierung ist weder Los noch Abstimmung am Platze. Da der Monarch von Rechts wegen der einzige Fürst und die alleinige Obrigkeit ist, so liegt ausschließlich ihm die Ernennung seiner Stellvertreter ob. Als der Abbé von Saint-Pierre den Vorschlag machte, in Frankreich die königlichen Räte zu vermehren und sie durch das Los zu bestimmen, war er sich darüber nicht klar, daß er damit eine Änderung der Regierungsform vorschlug.
Jetzt bliebe mir noch übrig, über die Art der Abgabe und Einsammlung der Stimmen in der Volksversammlung zu reden, aber vielleicht wird die geschichtliche Entwicklung der römischen Staatsverwaltung in dieser Hinsicht die Grundsätze, die ich darüber aufstellen könnte, weit deutlicher darlegen. Es ist eines urteilsfähigen Lesers nicht unwürdig, ein wenig im einzelnen zu erfahren, wie die Staats- und Privatangelegenheiten in einer Versammlung von zweihunderttausend Menschen sich erledigten.
4. Kapitel
Von den römischen Comitien
Aus den ältesten Zeiten Roms besitzen wir keine ganz sicheren Denkmäler; es hat sogar einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, daß das meiste, was davon erzählt wird, dem Fabelreiche angehört, [Fußnote: Das Wort Rom, das von Romulus hergeleitet wird, stammt aus dem Griechischen und bedeutet Stärke (rome), und der Name Numa kommt wahrscheinlich ebenfalls aus dem Griechischen und läßt sich mit Gesetz (nomos) übersetzen. Wie unwahrscheinlich, daß die beiden ersten Könige dieser Stadt schon im voraus Namen führten, die ihren Taten so genau entsprachen.] und gewöhnlich fehlt uns gerade der lehrreichste Teil der Annalen der Völker, die Geschichte ihrer Entstehung, fast ganz. Täglich lehrt uns die Erfahrung, aus welchen Ursachen die Revolutionen der Staaten entstehen; da sich jedoch keine Völker mehr bilden, so können wir über die Art ihrer Entstehung nur Mutmaßungen hegen.
Die Gebräuche, die man eingeführt findet, beweisen wenigstens, daß sie einen Ursprung gehabt haben. Von den Überlieferungen, die auf diese Urquellen zurückführen, müssen diejenigen als die sichersten betrachtet werden, die die meiste Gewähr und die stärksten Gründe für sich haben. Diesen Grundsatz habe ich mich zu befolgen bemüht, indem ich untersuchte, wie das freieste und
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