Der gestohlene Abend
Wahrscheinlich war man noch immer mit Aufräumen beschäftigt. Wer hatte wohl Davids Stelle übernommen? Vielleicht Mark Hanson oder Jacques Sroka? Jeden Tag spekulierte ich ein wenig darauf, die Tür einmal offen zu finden und zu sehen, wer jetzt dort arbeitete. An einem sonnigen Tag im April klopfte ich einfach an, um die Frage auf diese Weise zu beantworten. Niemand antwortete. Dann hörte ich Schritte, die nur von einer Frau stammen konnten, die Stöckelschuhe trug. In dem kurzen Moment, bevor die Tür sich öffnete, hatte ich das Gefühl, diese Schritte zu kennen. Sollte sie womöglich hier arbeiten?
Aber es war Catherine, die öffnete, Marians Sekretärin. Sie schaute mich verwundert an, und es dauerte einen Augenblick, bevor ihr ein wenig verstimmter Gesichtsausdruck einem Lächeln Platz machte.
»Oh, Matthew«, rief sie dann. »Hi.«
»Hi, Catherine«, sagte ich. »Wie geht es Ihnen?«
»Danke. Gut. Na ja, ehrlich gesagt, ich bin ziemlich im Stress. Was führt Sie her?«
Die Räume sahen völlig verändert aus. Überall standen geöffnete Kartons herum. Papierstapel bedeckten die Tische. Zwei Kopiermaschinen liefen gleichzeitig. Offenbar war im Eiltempo renoviert worden. Statt ockerfarben waren die Wände jetzt weiß. Catherine hatte meinen neugierigen Blick bemerkt.
»Wir sind immer noch damit beschäftigt, zu retten, was zu retten ist.«
»Ist viel zerstört worden?«, fragte ich, ohne dass es mich besonders interessiert hätte. Was hatte Davids Feuer hier schon angerichtet im Vergleich zu der Zeitbombe, die De Van-der selbst hinterlassen hatte.
»Vor allem Korrespondenz«, sagte Catherine. »Es ist aber schon viel Material wieder aufgetaucht.« Sie deutete auf den hinteren Raum, wo sich verschnürte Pakte und wattierte Umschläge stapelten. »Viele Freunde und Kollegen schicken Briefe aus ihren eigenen Sammlungen. Wenn alles kopiert ist, sehen wir klarer.«
»Warum kopiert?«, fragte ich.
»Die Originale gehen zu Marian nach Kanada. Hillcrest behält nur Kopien.«
Ich nickte. Das war nur logisch. Marian und der Nachlass gehörten ja zusammen. Ich spürte, dass Catherine keine Zeit für mich hatte. Angesichts der Papierstapel, die auf sie warteten, wollte ich sie nicht länger aufhalten.
»Geht das INAT auch nach Kanada?«, fragte ich noch.
»Nein. Nur das Archiv. Und einige Studenten. Parisa und Janine sind schon dort. Es wird neben Hillcrest noch ein zweites Zentrum für De-Vander-Studien geben.«
»Ah«, sagte ich. »Auch für Literaturtheorie?« »Nein. Marians Lehrstuhl ist ganz neu eingerichtet worden. Es soll dort mehr um Politik gehen. Hillcrest bleibt das Zentrum für Literaturtheorie. Im Grunde ist es ja gar nicht so schlecht, wenn man Theorie und Praxis ein wenig trennt. Ich finde es nur immer schade, wenn die netten jungen Leute wieder weggehen.«
Ich weiß nicht mehr, mit welcher Ausrede ich mich aus der Unterhaltung verabschiedete. Ich stieg die Treppen in den dritten Stock hinauf, ging an meinen Platz und versuchte, mich auf die Lektüre zu konzentrieren, die für den nächsten Tag auf dem Programm stand. Ich kam nicht sehr weit. Was Thomas Carlyle vor fast zweihundert Jahren geschrieben hatte, klang wie ein Echo aus einer untergegangenen Welt, deren Begriffe zu nichts mehr taugten. Wir wären in der Tat weise, wenn wir die Zeichen unserer Zeit wirklich erkennen könnten...
Ich unterstrich Zeichen und erkennen und malte ein Fragezeichen an den Rand. Dann legte ich den Bleistift zur Seite und las den Rest des Absatzes:
... und durch das Erfassen ihrer Mängel und Vorzüge unsere eigene Haltung zu ihr klug zu bestimmen wüssten. Lasst uns also, anstatt müßig in eine schemenhafte Ferne zu blicken, einen Augenblick lang in aller Ruhe die verwirrende Situation in unserer nächsten Umgebung betrachten. Vielleicht verschwindet bei genauerer Betrachtung ein Teil dieser Verwirrung, und möglicherweise treten die markanten Vertreter und tieferen Tendenzen unserer Zeit hierbei deutlicher zu Tage, wodurch unsere eigene Beziehung zu ihr, unsere wahren Ziele und Bemühungen darin, uns gleichfalls klarer werden.
Ich schaute um mich, auf die endlosen Bücherregale, die gesenkten Häupter lesender oder schreibender Studenten an den Tischen neben mir. Ein Streifen Sonnenlicht fiel auf die Tischplatte neben meinen Büchern. Ich lehnte mich zurück, legte meine Hand auf die Stelle, um die Wärme zu spüren, und wartete - ich weiß nicht, worauf.
Kapitel 66
Im Frühjahr des folgenden Jahres
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