Dein Kuss in meiner Nacht
K
apitel 1
Kennst du dieses Mädchen, das immer hinten in der Klasse sitzt? Das ein paar Pfunde zu viel auf den Hüften hat und deren Haare sich stets erfolgreich gegen jeglichen Bändigungsversuch wehren? Das Mädchen, das beim Sport immer die Letzte ist, und die allein in der Kantine an ihrem Tisch sitzt? Die rot wird, wenn man sie anspricht, und die dann keinen einzigen zusammenhängenden Satz rausbekommt? Nun, wenn du dieses Mädchen kennst, dann kennst du mich. Und ich hasste es, diese Person zu sein.
Mein Leben war nicht immer so gewesen. Bis zu meinem sechsten Lebensjahr war ich glücklich. Mein Dad hatte einen Job als Polizist, meine Mum ging dreimal die Woche putzen und war sonst immer zu Hause. Sie gab sich Mühe, uns ein schönes Heim zu schaffen. Alles war gut, bis zu dem einen Tag, der alles verändern sollte. Der meine glückliche Kindheit in einen Albtraum verwandelte.
Nie werde ich diesen Abend vergessen. Dad hatte Spätschicht, er nahm oft die Spätschicht, wegen der extra Prämie, wie meine Mum mir einmal erzählt hatte. Ich erinnere mich, dass es an der Tür klingelte und zwei von Dads Kollegen vor unserem Haus standen. Sie sagten zu meiner Mum, dass etwas Schreckliches passiert sei. Mum schickte mich auf mein Zimmer, doch ich blieb oben auf der Treppe hocken und lauschte. Die Polizisten sagten, es sei eine Routine-Verkehrskontrolle gewesen. Was die Männer dann berichteten, stellte meine kleine heile Welt auf den Kopf. Mein Dad und sein Kollege hatten ein Auto kontrollieren wollen, als der Fahrer des Wagens plötzlich eine Waffe zog und abfeuerte. Mein Dad sei sofort tot gewesen, sein Kollege kämpfe auf der Intensivstation um sein Leben.
Ich wusste, was ich da hörte, war schlimm, doch begriff ich die Tragweite nicht. Der Tod ist etwas Abstraktes für ein Mädchen von sechs Jahren. Es war zwar nicht das erste Mal, dass ich mit dem Tod in Berührung kam, denn meine Granny war gestorben, als ich drei war. Zwei Jahre später war dann meine Katze vom Auto überfahren worden. Doch diesmal war es etwas ganz anderes. Meine Granny war schon sehr alt gewesen. Und Tiere lebten in der Regel nicht so lange wie ein Mensch. Doch ein Dad stirbt nicht, wenn sein kleines Mädchen gerade erst in die Schule gekommen war. Und doch. Dad war tot und es war niemand da, der dem kleinen sechsjährigen Mädchen half, das zu verarbeiten. Ich war allein und furchtbar verängstigt. Wenn Mum weinte, verkroch ich mich in meinem Zimmer unter dem Bett, die Hände auf die Ohren gepresst. Ich wollte sie nicht weinen hören. In mir brannten Wut und Verzweiflung. Wut auf meinen Dad, dass er mich verlassen, auf meine Mum, weil er wegen ihr die Spätschichten gemacht hatte. Ich war zwar noch klein, doch ich hatte oft gehört, wie meine Mum ihm wegen Geld in den Ohren gelegen hatte. Jetzt war er tot. Verschwunden aus meinem Leben. Nicht einmal ein Bild blieb mir, denn die hatte Mum alle entfernt.
Nach Dads Tod fiel Mum in ein tiefes Loch und schon bald wurde ich unsichtbar für sie, so als gäbe es mich gar nicht. Ich war nicht wichtig. Vergessen. Und dennoch waren die ersten drei Jahre nach Dads Tod im Nachhinein noch die besseren, ehe alles noch viel schlimmer kam.
Ich ging in die dritte Klasse der Elementary School, als meine Mum Ron kennenlernte. Nur drei Monate später waren sie verheiratet und wir zogen von New York nach Tristan Falls in Minnesota. Ich hasste alles an meinem neuen Leben. Das kleine, verkommene Haus, meinen Stiefvater, die neue Schule, meine Klassenkameraden. Einfach alles. Aber meine Mum schien für eine Weile glücklich zu sein. Sie blühte förmlich auf, zog sich wieder nett an, schminkte sich und himmelte Ron an. Doch schon bald änderte sich ihre Laune wieder und ich fand recht schnell heraus, warum. Ron betrog sie. Er jagte allem nach, was weiblich und von einigermaßen ansprechendem Aussehen war. Außerdem ging er jedes Wochenende mit Kumpels in den Pub und kam erst spät in der Nacht nach Hause, immer vollkommen betrunken.
Etwa ein Jahr nach ihrer Hochzeit schlug er meine Mum zum ersten Mal. Danach wurde es immer schlimmer. Er verlor seinen Job, trank noch mehr und wurde immer gewalttätiger. Es dauerte nicht lange bis auch Mum zu trinken anfing, und als ich zwölf Jahre alt war, war ich bereits daran gewöhnt, alles allein zu managen. Wenn es zu Hause unerträglich wurde, übernachtete ich bei Sandy, meiner einzigen Freundin. Leider zog Sandy mit ihren Eltern weg, als ich vierzehn war. Seitdem
Weitere Kostenlose Bücher